Der Verbannung entkommen
- Redaktion
„Sie haben es nicht leicht“, sagt Connie, „sie wachsen auf in einer Gegend voller Banden und Drogen, sie müssen herausfinden, wer sie sind und was sie wollen und haben niemanden, der ihnen hilft.“ Die Eltern stecken in ihren eigenen Identitätskrisen, sind ungebildet, meist überfordert. Orientierung? Perspektive? „Wie denn?“, fragt Connie, die einmal in einer Schule in der Gegend unterrichtete. Geografie. Da war ein Junge, der sich demonstrativ desinteressiert gab. Sie fragte warum. Der Junge: „Warum soll ich mich für die Welt interessieren?“ Er war 15 und noch nie ausserhalb von London.
Die Geschichte spielt in Willesden, Brent Borough, North London. Wo einförmige Häuschen zwischen kleinen Parks und Bäumen stehen, die Backsteinfassaden verrußt, im Vorgarten Ramsch. In der High Road, der Willesden Lane, den Hauptstrassen, reiht sich Wettbüro an Waschsalon an Schnellreinigung an Pizzabude an chinesischen Schnellimbiß. Auf den Gehsteigen Inderinnen in Saris, muslimische Frauen mit verschleierten Gesichtern. Vor den Pubs rauchende Männer mit roten Nasen. „Willesden ist nicht das London, das man aus dem Fernsehen kennt“, sagt Connie, „hier ist nicht Buckingham Palace, Notting Hill oder Chelsea, hier gibt es Arbeitslosigkeit und Kriminalität, hier gehen die Kids auf einer ganz dünnen Linie – entweder du übernimmst soziale Verantwortung oder du wirst Drogenhändler.“
Connie ist eine große, athletische Frau. Dreispringerin gewesen, ambitioniert, nie ganz vorne dabei. Ihre beste Platzierung war Rang drei bei den Commenwealthspielen 1998. Und auch das, sagt sie, habe sie weniger ihrer sportlichen Begabung zu verdanken. „Was ich kann, ist fokussieren, und ich bin in allem, was ich tue, unnachgiebig.“ So war das auch 2007, als die Betreiber des neuen Sportzentrums in Willesden Connie fragten, ob sie das Stadion und die Umkleiden nicht für eine Leichtathletikschule mieten wolle. Connie wollte. Sie verlangte 1,20 Pfund pro Training pro Person und hatte ein Problem. Obwohl am ersten Tag 50 Kids erschienen, reichte das Geld nicht, um Miete, Trainer und sich ein Gehalt zu bezahlen. Daraufhin beteiligten sich einige Schulen an den Kosten. Doch auch das reichte nicht, jedenfalls nicht für Connies Gehalt. Im Frühling 2009 lag sie mit Windpocken im Bett und wusste: „Ich habe noch zwei Monate Geld und Willenskraft übrig.“
Heute trainieren in Connie Henry’s Track Academy 500 Kinder und Jugendliche. Betreut werden sie von zehn Trainern. Gerettet hat Connie zunächst der London Sports Trust, eine gemeinnützige Organisation, bei der die frühere britische Sprinterin Natasha Danvers arbeitet. Danvers war begeistert von Connies Philosophie, nicht nur sportliche Leistungen zu fördern. Connie sagt: „Wenn wir einen Olympioniken produzieren sollten – feine Sache, aber es geht bei uns genauso um soziale und akademische Entwicklung.“ Wer bei ihr trainiert, muss zur Schule gehen einen Job haben oder sich um einen bemühen. Fünf Mentoren fungieren als Lebensberater, es gibt einen Nachhilfelehrer. Connie selbst versteht sich als „Coach, Freundin, Ersatzmutter, Lehrerin und Psychologin.“ Streng ist sie in jeder Rolle. „Du kommst pünktlich zum Training, du nimmst beim Essen deine Kapuze ab, du schreibst keine SMS, wenn du mit jemandem am Tisch sitzt.“ Ihr Credo: „Ohne Disziplin kein Erfolg – im Sport wie im Leben.“
Nehmen wir Moses Bawo, 20, Sohn nigerianischer Einwanderer, ein talentierter Sprinter. Doch dann verliebte sich Moses in ein Mädchen, geriet dadurch in dubiose Kreise, ging von der Schule ab. Connie bestellte Moses’ Mutter ein, sie bot dem Jungen an, als Assistent bei ihr zu arbeiten, einzige Bedingung: Zurück in die Schule oder Schluß mit Leichtathletikschule. Moses sagt: „Das war ein Augenöffner, dadurch habe ich kapiert, dass man ein Ziel braucht im Leben.“ Er liess die Freundin sausen, ging zurück zur Schule und sparte das Geld, das er bei Connie verdiente, für eine Reise nach Kalifornien. Zusammen mit drei anderen von Connies Athleten trainierte Moses bei Christine Ohuruhogu, Olympiasiegerin über 400 Meter in Peking 2008. Sie machten ihre Wäsche selbst, kochten füreinander und waren, wie Ohuruhogu befand, „fantastische Schüler“. Moses, der inzwischen Sport und Bewegungslehre studiert, sagt: „Die Leichtathletikschule ist mein Werkzeug, um den richtigen Weg zu finden.“
Oder nehmen wir Annie Tagoe, 17, mit sieben aus Ghana nach London gekommen. Annie kam vor zwei Jahren zu Connie, besser gesagt, Miss Goodwin, ihre Lehrerin, hat sie abgeliefert. Miss Goodwin sagte zu Connie, das Mädchen sei smart, begabt, aber nach 32 Schulverweisen wüssten sie nicht mehr, wie sie ihr helfen könnten. Annie erzählt: „Connie war vom ersten Tag an sehr strikt mit mir, aber sie hat mich auch in allem total unterstützt, sie war immer da, wenn ich sie brauchte.“ Inzwischen hat Annie an der Jugendolympiade in Singapur teilgenommen, wo sie Vierte über 100 Meter wurde und mit der Sprintstaffel Bronze gewann; dazu wurde sie britische Jugendmeisterin über 60 Meter. „Es ist einfach ein gutes Gefühl“, sagt Annie, „ich tue etwas für mein Land, ich kann reisen, ich bin etwas Besonderes.“ Connie sagt: „Sie hatte früher keine Kontrolle über ihre Emotionen, heute kann sie die auf der Laufbahn ausleben und dabei positive Erfahrungen machen.“ Annie: „Wenn ich laufe, kann ich ganz ich sein.“
Vor einigen Wochen nahm die Laureus Sport for Good Foundation Connies Leichtathletikschule in den Kreis der Projekte auf, die sie fördert. Das Fernsehen war da. Die Eltern der jungen Athleten kamen in Sonntagskleidung. Auf einem Podium sassen Mitglieder der Laureus Academy: Sebastian Coe, Michael Johnson, Steve Redgrave. Ein Mittelstreckenläufer, ein Sprinter, ein Ruderer. Legenden, üppig dekoriert mit olympischen Goldmedaillen, Weltmeistertiteln. Sie sprachen von der Kraft des Sports. Dass Sport Leben verändern könne. Wie er über Sieg und Niederlage hinaus Halt gebe und Werte vermittele. Connie sagte: „Wir alle brauchen Vorbilder, auch wir streben hier nach den bestmöglichen körperlichen Leistungen, aber unsere Kinder verstehen auch: Was du als Athlet machen kannst, ist nichts, wenn du dich nicht als Mensch entwickelst.“
Ein schöner Event. Die Eltern liessen sich mit den Stars fotografieren. Coe nannte scherzhaft Connie „Miss Unnachgiebig“. Die Lehrerin einer nahegelegenen Schule sagte: „Sport und Erziehung passen perfekt zusammen.“ Moses’ Mutter, hielt eine Rede. Ukachi Bawo sagte: „Unsere Kinder müssen ihren Körper und ihr Gehirn beschäftigen, damit sie nicht verloren gehen, Sport gibt ihnen die Amibition, etwas Besseres aus ihrem Leben zu machen, und sie gibt ihnen den Glauben an sich selbst.“ Danach kam ein kleines, schlankes Mädchen auf auf das Podium. Es trug lila Lippenstift und steil nach oben gegeltes Haar. Annie. Auf die Frage nach ihren Erfolgen, antwortete sie nicht mit Medaillen oder Bestzeiten, sondern sagte: „Ich habe hier gelernt, meine Benehmen zu verbessern.“ Und dann gingen alle hinaus ins Stadion, und die Stars liefen zum Spaß gegen die Kids auf und ab für die Fotografen.
Gleich 17 Uhr. Connie muss los, sie sind inzwischen gekommen. Moses, Annie und die anderen warten. Doch bevor sie geht, sagt sie: „Mir tun die Jugendlichen von heute leid. Sie haben 20 Fernsehprogramme, Computerspiele, Internet, Mobiltelefon, soziale Kommunikation hinten und vorne. Sie können ständig in irgendein Gerät irgendwas eingeben und bekommen eine Ablenkung, eine Sensation, eine Illusion. Sie werden in einer Welt sozialisiert, in der alles schnell und flüchtig ist und am Ende alles nichts bedeutet. Wie können sie dabei zu ihrer inneren Stimme finden?“
Blauer Himmel über den Backsteinhäusern. Durch die Bäume streicht ein warmer Wind. „Wir müssen ihnen helfen, sich auf ihre innere Stimme zu besinnen“, sagt Connie, „wie allen jungen Leute sagt ihnen ihre Stimme: ‚Du kannst etwas, du bist aussergewöhnlich.’“
Quelle: Laureus
(Hervorhebungen durch netzathleten.de)