Genesung, Prävention, Maximalleistung – reine Kopf- und Nervensache
- Redaktion
Lars Lienhard ist so etwas wie ein Pionier im deutschen Spitzensport. Der 43 Jahre alte Sportwissenschaftler gilt im Bereich des sogenannten Neuroathletiktrainings als Geheimtipp, begleitete – u.a. – als erster externer Neuroathletik-Coach in der DFB-Geschichte die deutsche Nationalmannschaft zu einem Top-Event: Zur WM 2014 in Brasilien. Er plädiert für einen Perspektivwechsel in Sachen Rehabilitation, Prävention und Leistungs-Optimierung von Spitzensportlern – auch in der Fußball-Bundesliga.
Dass der FC Augsburg im Konzert der Großen freche Töne anschlägt und inzwischen als Europapokal-Anwärter gilt, löst bei vielen Bundesliga-Experten bisweilen noch immer Verwunderung aus. Insbesondere der gute Fitness-Zustand der Mannschaft trägt dazu bei, dass die Underdogs aus Schwaben oben mitmischen – ein Verdienst des Mitarbeiterstabs um Chefcoach Markus Weinzierl, seiner Athletiktrainer sowie der medizinischen Abteilung. Um die körperliche Verfassung der Augsburger verdient macht sich dabei auch Lars Lienhard. Der Mann aus Bonn ist Neuroathletikcoach. Er kümmert sich unter anderem um Jan-Ingwer Callsen-Bracker und Dominik Kohr. Auffällig: Callsen-Bracker, seit 2003 Profi und in der Winterpause 2010/2011 nach Augsburg gewechselt, hat seine Verletzungsanfälligkeit aus Leverkusener und Gladbacher Tagen abgelegt. Mit Lienhard trainiert er seit knapp vier Jahren. Seitdem brachte es der Abwehrspieler auf über 100 Bundesliga-Einsätze – mehr als doppelt so viele wie zuvor. Er ist eine verlässliche Konstante bei den Schwaben. Auch Leihgabe Dominik Kohr, ebenfalls vormals Leverkusen, hat einen beträchtlichen Entwicklungssprung hinter sich und deutlich an Stabilität gewonnen. Auch er vervielfachte seine Erstliga-Einsätze an der neuen Wirkungsstätte. Gegen das Starensemble aus Wolfsburg gelang ihm unlängst der 1:0-Siegtreffer. Ihre persönlichen Erfolge sprechen sich herum.
Inzwischen gehört auch Keeper Marwin Hitz zu den Spielern, die punktuell mit Lienhard trainieren. Vor drei Monaten hatte er sich einen Kreuzbandanriss zugezogen. Das Saisonende drohte. Im Februar, nach einer erstaunlich kurzen Rekonvaleszenz, feierte er sein umjubeltes Comeback, erzielte als stürmender Torwart gegen Champions League-Teilnehmer Leverkusen das 2:2 in allerletzter Sekunde.
Callsen-Bracker, Kohr und Hitz haben wie viele andere Spitzensportler erfahren, welche Fortschritte parallel zum konventionellen Aufbautraining mithilfe neurologischer Komponenten möglich sind. Welch ungeahnte Potentiale sich wecken lassen. Dabei geht es in ihren Einheiten mit Lienhard weniger um konventionelle Trainingsmethoden, nicht um schweißtreibende Fleißübungen. Vielmehr zielt der Sportwissenschaftler auf die Aktivierung des Gehirns – auf das Cockpit für Bewegung, Beweglichkeit, Kraft und Schmerz. „Gehirn und Nervensystem“, so Lienhard, „gehörten bis heute zu den meist ignorierten Grundlagen zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit“. Er plädiert für einen Perspektivwechsel im Sport – von der rein biomechanischen hin zu einer stärker neuronal geprägten Sichtweise. Im Interview mit netzathleten.de erklärt er, warum.
netzathleten.de: Herr Lienhard, wie lautet Ihr Berufsmotto?
Lars Lienhard: Lassen Sie es mich meinen ‚Grundgedanken’ nennen: „Du bist nur so stark wie deine schwächste Stelle!“ Das menschliche Bewegungssystem ist in seiner Komplexität so aufgebaut, dass alles miteinander verbunden ist, in Wechselwirkung zueinander steht und vom Gehirn und Nervensystem gesteuert wird.
netzathleten.de: Was sind Sie? Ein Revoluzzer? Als was werden Sie von ihren Athletinnen und Athleten wahrgenommen? Als Fitness-Guru oder gar als Wunderheiler?
Lars Lienhard: Auf gar keinen Fall als Fitness-Guru oder Wunderheiler, um das gleich klarzustellen. Gegen solche Begriffe wehre ich mich entschieden. Derartiger Spuk liegt mir völlig fern. Neuroathletiktraining ist auch kein von der Fitnessindustrie propagierter Trend.
netzathleten.de: Gut, verständigen wir uns auf Revolutionär , oder zumindest: Pionier ...
Lars Lienhard: Wenn Sie ein Etikett für mich brauchen, oder ein Attribut ... – ich würde lieber weniger über mich als vielmehr über die Innovation des Neuroathletiktrainings sprechen wollen ...
netzathleten.de: ... was zwangsläufig mit Kritik an konventionellen Trainings- und Reha-Konzepten im Leistungssport einhergeht.
Lars Lienhard: Ich bin kein Systemkritiker. Mir geht es keineswegs um Konfrontation, nur der Konfrontation halber. Allerdings bemängele ich, dass man sich in Sachen Rehabilitation, Prävention und Athletiktraining bislang zu sehr auf die biomechanische Sichtweise verlässt und die neuronale Komponente missachtet. Leider. Dabei findet sich hinter jedem Problem immer ein neuronaler Hintergrund. Es läuft nichts ohne das Gehirn.
netzathleten.de: Sie plädieren für einen Perspektivwechsel.
Lars Lienhard: Genau. Andernfalls bleiben etliche Prozente zwangsläufig auf der Strecke – egal, wie intensiv man trainiert, die Muskulatur dehnt oder belastet. Die Erkenntnisse über das Gehirn und Nervensystem als bewegungssteuernde Instanzen und deren praktische Umsetzung gehören im Sport leider noch zu den meist ignorierten Grundlagen zur Verbesserung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit. Sie müssen aus meiner Sicht aber in den Vordergrund rücken und in ein ganzheitliches Athletiktraining integriert werden. Damit erreicht man einen Quantensprung.
netzathleten.de: Und hier setzen Sie an?
Lars Lienhard: Ja. Ich arbeite an der Schnittstelle zwischen Neurowissenschaft und modernem Athletiktraining. Es ist doch so: Das Gehirn ist evolutionsbiologisch und in erster Linie ein Organ, das unser Überleben in der Umwelt sichern soll. Wirklich alles läuft durch den Filter: Wie gefährlich ist das, was ich gerade tue? Ist das, was das Gehirn wahrnimmt, nicht klar und kontrollierbar, werden umgehend Schutzreflexe ausgelöst. Diese müssen ausgeschaltet werden, um die maximale Leistung zu erreichen. Nicht falsch verstehen: Natürlich ohne echte Gefahren zu ignorieren. Im Gegenteil. Diese werden durch einen neuronal optimierten Bewegungsablauf vermieden. Systeme, die den Status Quo des Gehirns und des Nervensystems vor jedem Training nicht individuell überprüfen, können wiederum sogar gefährlich sein, Verletzungen bedingen und die Leistung mindern.
netzathleten.de: Gibt es eine Hierarchie innerhalb der bewegungssteuernden Instanzen?
Lars Lienhard: Da ist erstens das visuelle System, also die Augen. An zwei steht das vestibuläre System, also das Gleichgewichtssystem im Innenohr. An dritter Stelle: Das propriozeptive System, also die Informationen aus der Körperperipherie. Wird durch eines dieser Systeme Gefahr erfasst, kommt es zu ‚Schutzmechanismen’, die immer leistungsmindernd wirken und den biomechanischen Defiziten und Problemen zu Grunde liegen.
Rechts im Bild: Lars beim Training mit Tatjana Hüfner, Rennrodel-Olympiasiegerin (2010), sechsmal Weltmeisterin, fünfmal Weltcupsiegerin
netzathleten.de: Wie kann sich der Laie dieses Prinzip vorstellen?
Lars Lienhard: Herkömmlich wird geglaubt: Wenn etwas schmerzt, ist diese Stelle auch ursächlich. Das ist also eine recht symptomatische Sichtweise. Diese aber ist in den meisten Fällen nicht richtig! Dass es zu Schmerz kommt, ist eine Entscheidung im Gehirn. Schmerz ist nur ein Warnsignal, eine Aufforderung zum Handeln. Die Stelle die schmerzt ist quasi nur nicht unter ‚Kontrolle’ und durch Schmerz wird einem schnell bewusst, jetzt den Schongang einzulegen. Schmerz heißt nicht, dass etwas auch geschädigt sein muss. Dies gilt natürlich auch umgekehrt. Schmerz ist also das Ereignis eines Schutzreflexes. Diese Schutzreflexe äußern sich aber nicht nur als Schmerz. Nein, viel öfter sind es Muskelverspannungen, Bewegungseinschränkungen oder Krafteinbußen – also potentielle Schmerzen oder Verletzungen. All diese Resultate sind quasi vom Gehirn gewollt und unterliegen dem gleichen Prinzip wie Schmerz. Unter diesem Gesichtspunkt sollten die entsprechenden Maßnahmen getroffen werden. Es geht also nicht darum, dass ein Athlet schwach ist oder unbeweglich ist, sondern warum er es ist. Ergo würde Krafttraining bzw. Dehnen nicht sehr viel bringen, da die ‚Bewegungssoftware’ dadurch nicht verändert würde.
netzathleten.de: Soll heißen, neuronale Trainingskomponenten sind quasi ein ‚Software-Update’? Fehlerhafte Bewegungssoftware wird überschrieben?
Lars Lienhard: So kann man das ausdrücken, ja. Um im Bild zu bleiben: Bewegung findet in erster Linie im Gehirn statt. Und die ‚Bewegungslandkarte’ im Gehirn wird über Stimulation des visuellen, vestibulären und propriozeptiven Systems erschlossen – heißt: ‚blinde Flecken’ werden durch ein ‚Bewegungssoftware-Update’ regelrecht ‚überschrieben’ und neutralisiert.
netzathleten.de: Und die Folge?
Lars Lienhard: Das Nervensystem ist das am schnellsten agierende System im Körper. Darum kommt es auch sehr schnell zur Bewegungsoptimierung, Schmerzlinderung und Leistungsverbesserung. Die Resultate sind unmittelbar fühl-, mess- und sichtbar – nicht erst nach Monaten wie bei biomechanischen Ansätzen.
netzathleten.de: Eine Individualisierung bzw. Spezifizierung in Ihrer Arbeit ist vermutlich unabdingbar?
Lars Lienhard: Natürlich. Jedes Training bei uns beginnt mit einer detaillierten Anamnese und einer intensiven und ganzheitlichen Überprüfung der aktuellen Bewegungsqualität. Dies impliziert auch eine genaue Überprüfung des Nervensystems. Unsere Trainingskonzepte sind daher so individuell wie ein Fingerabdruck unserer Sportlerinnen und Sportler. Zudem ist ja auch der Faktor Techniktraining von großer Bedeutung. Unterschiedliche Sportarten und Disziplinen bringen schließlich unterschiedliche, spezifische Gegebenheiten mit sich. Allerdings hängt der Erfolg des Neuroathletiktrainings natürlich wesentlich davon ab, wie gut ein Coach sein Wissen in der Praxis umsetzen kann – das ist die Kunst daran.
netzathleten.de: Weitergedacht würde das in letzter Konsequenz bedeuten, dass man in Zukunft Stars regelrecht entwickeln – um nicht zu sagen: bauen – kann. Ist das eine zu abenteuerliche Vision oder eine logische Folgerung dessen, was heute noch als innovativ betrachtet werden muss?
Lars Lienhard: Das ist natürlich ein fast schon philosophischer Ansatz. Es klingt etwas befremdlich, für Romantiker vielleicht sogar abschreckend, aber letztlich kann man tatsächlich sagen: Sportliche Elite lässt sich kreieren. Übrigens fernab der Doping-Problematik. Eine für mich als Sportwissenschaftler und Trainer faszinierende Perspektive. Talent, das jedenfalls steht für mich fest, wird überbewertet.
Interview: Frank Schneller
Wer mehr über das Konzept des Neuroathletik-Trainings und Lars Lienhard erfahren möchte, findet weitere Infos auf: www.focus-on-performance.de.