Die Verletzungsmisere des FC Bayern: Alles Pech? Schicksal? Zufall? getty images; Jerome Boateng (li) verletzte sich später im Spiel gegen den HSV schwer

Die Verletzungsmisere des FC Bayern: Alles Pech? Schicksal? Zufall?

  • Redaktion
Es ist wieder Champions League angesagt und der FC Bayern muss bei Juventus Turin ran. Ein schwerer Brocken, zumal mit der großen Anzahl verletzter Spieler, die der Rekordmeister derzeit beklagt. Dass so viele Akteure verletzt sind, sei kein Zufall, sagt Sportwissenschaftler Lars Lienhard. Aber warum?
Wenn der FC Bayern am morgigen Dienstag zum Champions League-Achtelfinalgipfel bei Juventus Turin antritt, werden dem deutschen Rekordmeister – wie so häufig in den letzten zwei Jahren – wichtige Leistungsträger verletzungsbedingt fehlen. Pep Guardiola muss in diesem auch für ihn so wichtigen Spiel vor allem auf eine komplette Abwehrreihe verzichten. Das Saisonziel der Münchner – das Triple – ist stark gefährdet: Jerome Boateng, Javi Martinez und der erst letzte Woche erneut schwer verletzte Holger Badstuber sind monatelang im Krankenstand. Medhi Benatia ist zwar im Aufgebot, jedoch selbst gerade erst zum wiederholten Male aus der Rekonvaleszenz zurück.

Woher aber kommen die unzähligen Muskelverletzungen beim Branchenprimus? Warum brach sich der ohnehin leidgeprüfte Badstuber im Training ohne Fremdeinwirkung den Knöchel? Alles nur Pech? Zufall? Schicksal? Nein, ist sich Sportwissenschaftler Lars Lienhard (44), Experte für neuronal gesteuertes Athletiktraining, sicher. Lienhard gehörte 2014 vor und bei der Fußball- WM in Brasilien zum Trainerstab des DFB, arbeitet mit zahlreichen Profi-Fußballern zusammen und bereitet aktuell zum dritten Mal deutsche Top-Athleten auf Olympische Spiele vor. Auch zum beeindruckenden Comeback des Handball-Weltmeisters Dominik Klein (THW Kiel) nach dessen Kreuzbandriss trug Lienhard bei.  Die These des Bonners: Die hohe Frequenz bewegungsinduzierter Verletzungen weist auf einen systematischen Fehler in der Bewegungs- und Belastungssteuerung der Spieler, insbesondere der Rekonvaleszenten hin. Die Redaktion von netzathlten.de bat ihn aus aktuellem Anlass zum Gespräch.

netzathleten.de: Herr Lienhard, ein Interview mit dem Sport-Informations-Dienst (SID), in dem Sie sich unter anderem zu den vielen Verletzungen beim FC Bayern äußern, hat viel Aufsehen erregt – sogar international.  Einige Medien meldeten: ‚Experte kritisiert Pep Guardiola’ – ein Hingucker ...
Lars Lienhard: Das habe ich natürlich mitbekommen. Dazu würde ich gerne mal etwas klarstellen: Erstens hat mich Ihr Kollege vom SID in diesem Interview völlig korrekt und vollständig zitiert. Zweitens aber wurden in einigen Redaktionen meine Äußerungen zugespitzt und fehlinterpretiert. Denn wer das Interview gelesen hat, kann es eigentlich nicht missverstehen: Ich habe eben nicht Pep Guardiolas Training kritisiert! Diese Deutung ist falsch.

netzathleten.de: Dann lassen Sie uns nachfassen: Sie erklärten, dass und warum die Verletzungsmisere beim FC Bayern weder Pech noch Zufall ist.
Lars Lienhard: Stimmt. Im Fußball ist die hohe Anzahl der wiederkehrenden Muskelverletzungen ohne Fremdeinwirkung signifikant. Wir nennen diese Verletzungen bewegungsinduziert. Wenn solche immer wieder auftreten, wenn einfach etwas reißt oder bricht, ist das weder Pech noch Zufall. Dann ist wahrscheinlich ein systematischer Fehler in der Belastungs- und Bewegungssteuerung der Spieler die Ursache.

netzathleten.de: In München wurde im Zuge der Verletzungsmisere bereits die medizinische Abteilung ausgetauscht. Weil dies aber keinerlei Verbesserung nach sich zog, wird mittlerweile Pep Guardiolas Trainingssteuerung hinterfragt. Zurecht?
Lars Lienhard: Mich konkret zu einem Verein zu äußern, wäre anmaßend. Das steht mir nicht zu. Zumal man davon ausgehen darf, dass auf diesem Niveau Topleute am Werk sind. Ich will generell antworten: Eine solche Verletzungsfrequenz lässt sich nicht an den Vereinsärzten oder dem Cheftrainer festmachen. Denn, und das betone ich nochmals: Die sind für ihre spezifischen Bereiche verantwortlich. Entscheidend ist die Phase nach einem Eingriff oder einer ärztlichen Behandlung bis zur Rückkehr ins Mannschaftstraining: Also das Reha-, Aufbau- und Belastungsmanagement in der Zwischenzeit.

netzathleten.de: Holger Badstuber zog sich seine Knöchelfraktur ohne Körperkontakt zu. Unter anderem der Münchner Sport-Orthopäde Prof. Dr. Andreas B. Imhoff sieht einen „Zusammenhang mit seinen vorherigen Verletzungen“ – zwei Kreuzband- und diverse Muskel- und Sehnenrisse. Seine Verletzungsanfälligkeit sei daher generell erhöht. Stimmen Sie aus neurowissenschaftlicher Sicht zu?
Lars Lienhard: Das ist naheliegend, ja. Das muss aber nicht heißen, dass früher beschädigte Muskeln oder Knochen nicht wieder verheilt sind. Wenn ein Gewebe verheilt ist, ist halt oftmals noch lange nicht die Ursache für die Verletzung behoben, nämlich die Aktivitätsmuster im Gehirn und die dadurch im Körper zu findenden Kompensationsmuster. Bei immer wiederkehrenden Verletzungen liegen stets auch neuronale Steuerungsprobleme im Hintergrund vor. Man kann eben erst von einem erfolgreichen Rehabilitationsprozess sprechen, wenn auch die ‚Software’, die hinter der Verletzung steht, mit korrigiert wurde.

netzathleten.de: Wenn ein ohnehin schon oft schwer verletzter Spieler wie Badstuber mit den Stollen im Rasen hängenbleibt und sich den Knöchel bricht, ist das also ein fast zu erwartender Unfall?
Lars Lienhard: Ohne eine neuronale Reprogrammierung parallel zur Reha sind Folgeverletzungen vorprogrammiert, ja. Wenn das Gelenk unter schlechter neuronaler Kontrolle ist und man dann im Rasen hängen bleibt, bricht es viel eher, als wenn jedes Gelenk im Fuß unter perfekter Kontrolle ist. Denn dann fehlt der nötige Input aus dem betroffenen Fuß, aus den Gelenken, Sehnen, Bändern und Muskeln. Natürlich kann ein Bruch auch mit neuronaler Kontrolle durch eine heftige Gewalteinwirkung von außen – ein brutales Foul – passieren, aber ohne Fremdeinwirkung brechen Knochen nicht so schnell, es sei denn, es ist keinerlei Kontrolle vorhanden.

©FoP; Lars Lienhard beim Training mit Dominik Klein von THW Kiel

netzathleten.de: Im Gehirn entscheidet sich, ob sich ein Spieler verletzt oder nicht?

Lars Lienhard: Das Gehirn ist unsere bewegungssteuernde Instanz, Ausgangspunkt für jegliche Analyse von Bewegung und Verletzungen und sollte daher Ausgangspunkt für alle Reha- und Athletikprogramme sein. Vor jeder Trainingsmaßnahme sollten ergo zuerst die defizitären neuronalen Strukturen im Hintergrund von Leistungsdefiziten, Schmerz- und Verletzungsproblematiken behoben werden, bevor sich der Fokus wieder auf Reha- oder Performance-Training richtet. Nur geschieht das leider nicht.

netzathleten.de: Aber wie kann das sein? Die Profis kämpfen sich doch durch eine intensive Reha hinter sich ...
Lars Lienhard: Konventionelle Reha- und Athletiktrainingskonzepte sind biomechanisch und symptomorientiert ausgerichtet. Nicht neuronal. Diese Trainingssysteme basieren auf der Formel: „Das haben wir gefunden und das ist der mechanische Hintergrund“. Es soll also ein Symptom behandelt und ein biomechanischer ‚Idealzustand‘ erreicht werden, ohne beispielsweise auch neuronale Hintergründe einer Muskelverletzung überprüft zu haben. Um diesen Soll-Zustand zu erreichen werden dann oft pauschale ‚One-Fits-All’-Therapieansätze oder Trainingsprogramme genutzt. Verbindet sich über längere Zeit eine falsche, rein kraftlastige Reha mit einem falsch gesteuerten Athletiktraining, kommt dabei heraus, dass sich Reha-Prozesse im schlimmsten Fall stark verzögern und oftmals in unmittelbare Folgeverletzungen münden. Das ist kein Pech! Es geht nicht nur um die Heilung des geschädigten Gewebes, sondern vielmehr um die neuronalen Systeme, die Bewegungssoftware im Gehirn. Bewegungsprobleme und Schmerzen unterliegen letztlich den gleichen Mechanismen wie Verletzungen, nur dass sie noch nicht passiert sind.

netzathleten.de: Dann läuft das Aufbautraining nicht spezifisch genug ab?
Lars Lienhard: Genau. Jede Verletzung ist individuell und jeder Athlet hat eine individuelle Verletzungshistorie. Der Mensch ist kein Roboter. Man sollte in der Reha sogar die Verletzungssituation so gut wie möglich neuronal aufarbeiten, remodulieren und dort ansetzen, wo die Steuerung unmittelbar versagt hat. Pauschal-Lösungen sind nicht zielführend. Kaum jemand kommt zum Beispiel auf die Idee, eine Sprunggelenksverletzung mit einer vorherigen Kopf-, Knie-, Leisten, oder Bauchmuskelverletzung zu assoziieren, doch gibt es hier häufig enge neuronale Verbindungen. Und wenn doch, werden diese Strukturen häufig nicht ganzheitlich austherapiert, sondern zu früh viel zu starker, rein biomechanisch gesteuerter Belastung ausgesetzt, ohne die bewegungssteuernden, neuronalen Komponenten zu berücksichtigen.

netzathleten.de: Demnach müssten viele Texte über Holger Badstuber neu geschrieben werden?
Lars Lienhard: Das ist ja nicht mein Metier. Das Thema ist auch sehr sensibel, fachlich sehr komplex. Ich gebe nur zu bedenken: Wenn es im Falle immer neuen Verletzungen heißt, jemand sei schlicht übertrainiert, ein Pechvogel oder sein Körper sei halt nicht für Leistungssport geeignet, wird man weder dem eigentlichen Potenzial des Athleten, noch dem Menschen gerecht.


Zum Thema: Physiotherapeut Oliver Schmidtlein über Verletzungen im Fußball, Rehabilitation und die Wichtigkeit objektiver Bewertungskriterien

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