Straßenfußball für Toleranz – darum geht’s
- Nils Borgstedt
Startschuss 1994
Straßenfußball für Toleranz hat seine Ursprünge in Kolumbien. Anfang der Neunziger reiste der Deutsche Sportwissenschaftler und Soziologe Jürgen Griesbeck im Rahmen eines Forschungsprojekts der deutschen Sporthochschule Köln in das lateinamerikanische Land. Dort erlebte er die Emotionalität des Fußballs in all ihren Facetten. Von purer Begeisterung bis zu Mord und Totschlag zu Zeiten des Drogenbarons Pablo Escobars war alles dabei. Als 1994 der kolumbianische Nationalspieler Andres Escobar erschossen wurde, weil er zuvor bei der WM in den USA ein Eigentor verursacht hatte, war für Griesbeck – leider im wahrsten Sinne des Wortes – der Startschuss gefallen. Er wollte Regeln schaffen, die es ermöglichen, die Emotionen in friedliche Bahnen zu lenken. Er entwickelte Straßenfußball für Toleranz – mit Erfolg. Und das verbirgt sich dahinter.
Straßenfußball für Toleranz – die Regeln
Die Eckpfeiler des „Regelwerks“ beim Straßenfußball für Toleranz sind: Fair Play, Gewaltfreiheit, Integration, Gleichberechtigung, Spaß am Spiel und Lebensfreude. Um das alles umzusetzen, gibt es bestimmte Regeln.
Im Grunde gelten die „normalen“ Fußballregeln – keine Fouls, kein Handspiel und so weiter. Diese werden um ein paar Sonderregeln erweitert. Gespielt wird auf einem Kleinfeld, mit gemischten Teams (Jungen und Mädchen). Die Tore sind in der Regel nicht breiter als 1,20 m und nicht höher als 80 cm, einen Torwart gibt es nicht. Entscheidend außerdem: Das Spiel wird ohne Schiedsrichter gespielt. Vor dem Anpfiff setzen sich die Mannschaften in einer Dialogzone zusammen und vereinbaren zusätzlich zu den geltenden Fußballregeln drei weitere Regeln im Sinne des Fair Play. Solche Regeln können beispielsweise sein: Shake-Hands vor und nach dem Spiel, keine Schimpfwörter und Beleidigungen, alle Spieler einer Mannschaft müssen vor einem Tor den Ball berühren. Sogenannte Teamer, im Idealfall Tandems aus Jungen und Mädchen, moderieren das Geschehen und „ersetzen“ den Schiedsrichter. Zur Einhaltung dieser Regeln auf dem Platz verpflichten sich beide Mannschaften vor Anstoß.
Auch im laufenden Spiel gibt es Besonderheiten. Das erste Tor muss von einem Mädchen erzielt werden. Dadurch soll gewährleistet werden, dass die Mädchen in das Spiel einbezogen werden. Der Sinn der Kinder für Gemeinschaft und Integration soll so geschärft werden. Die Mannschaften achten selbst darauf, dass die Regeln eingehalten werden. Sollte es dennoch einmal zu Konflikten kommen, greifen die Teamer moderierend ein und helfen bei der Konfliktlösung. Ebenso haben sie die Möglichkeit, bei Verletzungen oder einem Handspiel das Spiel zu unterbrechen.
Nach Abpfiff der Partie kommen die Teams erneut in der Dialogzone zusammen und besprechen das Spiel. Welche Situationen waren strittig? Was lief gut? Wurden die vereinbarten Fair-Play-Regeln von allen eingehalten? Bei dieser Nachbesprechung werden auch die Punkte vergeben. Für einen Sieg gibt es drei Punkte, für eine Niederlage einen. Bei einem Unentschieden bekommen beide Mannschaften je zwei Punkte.
Neben den Punkten, die an das Ergebnis gekoppelt sind, werden ebenfalls Fair-Play-Punkte vergeben. Bis zu drei Fair-Play-Punkte können beide Teams erhalten. Drei Punkte bekommt eine Mannschaft, wenn sie alle vereinbarten Fair-Play-Regeln eingehalten und zudem sehr fair gespielt hat. Zwei Punkte gibt es, wenn alle Fair-Play-Regeln eingehalten wurden, es aber dennoch zu Konflikten gekommen ist und einen Punkt gibt es, wenn nicht alle Fair-Play-Regeln eingehalten wurden. Es können auch null Punkte vergeben werden, wenn keine Regeln eingehalten wurden. Wichtig bei der Vergabe der Fair-Play-Punkte ist, dass die Mannschaften sich gegenseitig die Punkte geben. Die Teamer treten während der kompletten Nachbesprechung wieder als Moderatoren auf.
Wie erfolgreich Straßenfußball für Toleranz sein kann, zeigen Zahlen aus Kolumbien, die im „Themenheft: Sonderheft 1 – Straßenfußball für Toleranz“ von Fußball-Lernen-Global 2007 veröffentlicht wurden: „Heute spielen 17.000 Jugendliche in 1.600 Mannschaften. Die Regeln werden inzwischen allgemein akzeptiert und kommen dem Spielfluss zugute, den kaum noch von Fouls und Streits unterbrochen wird. Entscheidend jedoch ist, dass sich die Mannschaften nicht aus Vereinen, sondern aus dem unerschöpflichen Fundus der Straßenkicker rekrutierten. Jeder darf mitspielen: Diebe, Dealer, Säufer, Kiffer, Killer.“
Auch in Deutschland gibt es zahlreiche Projekte, die Kindern aus sozialen Brennpunkten mit dieser Art des Straßenfußballs helfen. Beispielhaft sei hier das Projekt Kickformore genannt, das eine eigene Straßenfußballliga etabliert hat, die nach den Regeln des „Straßenfußball für Toleranz“ spielt. Es wäre wünschenswert, wenn es auch im normalen Ligabetrieb aller Klassen gelingt, Emotionen richtig zu kanalisieren und Differenzen und Konflikte mittels Kommunikation zu überwinden.