Getty Images; Die Tradition des Fangesangs stammt aus England
Experteninterview: Wie entstehen Fangesänge im Fußballstadion?
Was wäre ein Fußballspiel ohne lautstarke Fangesänge? Und vor allem: Wer denkt sich die Lieder überhaupt aus? Im Interview erklärt unser Experte, wie Fangesänge entstehen.
netzathleten.de: Herr Prof. Dr. Brunner, seit wann gibt es Fangesänge?
Prof. Dr. Georg Brunner: So was wie Fangesänge gibt es schon seit der Antike. Voraussetzung hierfür ist die Kombination von Sport, Musik und Menschen. Die Fußballgesänge im engeren Sinne dürften in den 1960er Jahren entstanden sein. Sie gehen zum einen auf die englische Tradition des Hymnen-Singens vor einem Cupfinal-Spiel zurück, zum anderen auf die Übernahme von Klatschrhythmen, die in südamerikanischen Stadien gepflegt werden.
netzathleten.de: Haben sich Fangesänge über die Jahre verändert?
Prof. Dr. Georg Brunner: Das ist schwer zu sagen. Interessant ist, dass sich seit der ersten großen Untersuchung zu Fangesängen in Deutschland Ende der 1990er Jahre bis heute tatsächlich kaum etwas verändert hat. Untersucht man die für Fangesänge verwendeten Melodien, stellt man einen großen Pluralismus fest, allerdings kaum mit Veränderungen. Die Vorlagen entstammen verschiedensten musikalischen Genres wie Martinszügen, Karneval, Schützenfesten, Kirchenmusik, Gospels und Spirituals, Tanzveranstaltungen, Advents- und Weihnachtsliedern, Opern, Schlagern, aber auch – allerdings eher selten – bekannten Hits.
netzathleten.de: Wie entstehen Fangesänge denn überhaupt?
Prof. Dr. Georg Brunner: Aus Interviews mit aktiven Fans zeichnet sich folgendes Bild ab: Es handelt sich bei der Schöpfung von Fangesängen um einen individuellen, nicht um einen kollektiven Prozess. Die einfachste Möglichkeit besteht darin, dass man den Gesang beziehungsweise die Melodie einfach von einem anderen Verein übernimmt. Daher rühren die häufigen Überschneidungen von Fangesängen bei den verschiedenen Vereinen; lediglich der Mannschaftsname wird ausgetauscht. Die andere Möglichkeit besteht darin, dass man sich neue Melodien sucht. Etwa bereits bei der Hinfahrt zu einem Spiel wird eine Melodie, die beispielsweise im Radio gehört wird, als passend für einen Fangesang erkannt und dann eventuell bereits mit Text unterlegt. Dies geschieht also rein zufällig. Dabei wird weniger neu erfunden als eine Melodie gefunden.
netzathleten.de: Und warum werden häufig Melodien bekannter Songs genutzt?
Prof. Dr. Georg Brunner: Will man, dass ein Song sich „durchsetzt“, muss man auf allgemein Bekanntes zurückgreifen. Die Musik kommt aus ganz unterschiedlichen, aber wohl doch alltäglichen Praxen der Fans. Man kann praktisch von einer musikalischen Volkskultur sprechen wie etwa auch beim Singen im Bierzelt. Auffallend dabei ist, dass nahezu keine aktuellen Titel der Popcharts Eingang finden. Allerdings gibt es oftmals Songs rund um den Fußball wie zum Beispiel von Herbert Grönemeyer, Xavier Naidoo oder Sportfreunde Stiller; überwiegend stammen die Melodien für Fangesänge aber von Schlagern oder Oldies der 60er oder 70er Jahre. Man beschränkt sich auf Altbewährtes, was möglichst viele kennen und mitsingen können.
netzathleten.de: Woher kommt nun trotz der überaus großen Vielfalt der Melodien die Einheit dieser Elemente untereinander?
Prof. Dr. Georg Brunner: Reinhard Kopiez und Guido Brink – zwei Pioniere der Fangesänge-Forschung – stellen im Zusammenhang mit diesem Thema die Frage nach der Ästhetik der Fangesänge. Da jeder Mensch eine private Ästhetik besitzt, die sich aus einer Vielzahl von verschiedenen musikalischen Genres bildet, gibt es offensichtlich eine relativ große Schnittmenge. Aus verschiedenen, offenbar nicht zusammenhängenden Dingen entsteht etwas Neues. Der Bielefelder Soziologe Dieter Baacke spricht hierbei von Bricolage oder Sampling. Die Menschen „basteln“ sich für die Bedürfnisse ihrer jeweiligen Kultur ihre Fangesänge zusammen und wählen aus der Überfülle des Angebots das aus, was ihnen im Moment gerade notwendig erscheint. Die Lieder werden nach dem Prinzip des Parodieverfahrens oder der Kontrafaktur umgetextet, ein Phänomen, das in der Musikgeschichte eine lange Tradition hat. Es erfolgt eine Art Materialrecycling.
netzathleten.de: Und wie werden Fangesänge weitergegeben, sodass viele sie kennen?
Prof. Dr. Georg Brunner: Im Stadion selbst stimmt ein Fan in der Fankurve diesen Gesang an. Heute sind es meist die Ultragruppen, die über entsprechende Beschallungsmöglichkeiten verfügen, und den Gesang im Stadion weitergeben. Ein Capo koordiniert als Vorsänger die Gesänge und wird von Trommlern unterstützt. Der harte Fankreis stimmt ein. Man probiert aus. Durch „Fortpflanzung“ etabliert sich der Gesang oder wird auch abgelehnt, kann sich also nicht durchsetzen.
netzathleten.de: Was macht einen „guten“ Fangesang aus?
Prof. Dr. Georg Brunner: Wie bereits schon gesagt, muss es sich um allgemein bekanntes Liedgut handeln. Weiterhin muss es eine Melodie sein, die leicht singbar und rhythmisch ist. Textlich kann man im Grunde zwei Richtungen unterscheiden: die eigene Mannschaft anspornende Gesänge und Antigesänge gegen die gegnerische Mannschaft. Wichtig ist zudem, dass man Fangsänge gezielt einsetzt, je nach Dramaturgie des Spiels. Lieder trifft man besonders vor und zu Spielbeginn, nach Torerfolgen oder kurz vor dem Ende, wenn die Partie bereits entschieden ist. Also in Situationen, in denen sich die Fans mehrheitlich in einer psychisch entspannten Verfassung befinden. Klatsch-Rhythmen, rhythmisiertes Rufen und Kurzgesänge setzen die Fans bei unentschiedenem Spielstand oder nur knappem Rückstand ihrer Mannschaft zur Anfeuerung ein.
netzathleten.de: Gibt es Melodien, die in Deutschland besonders bekannt sind? Falls ja, welche?
Prof. Dr. Georg Brunner: Ja, zum Beispiel „Guantanamera“. Darauf wird unter anderem „Scheiß Bayern München, wir singen Scheiß Bayern München, Scheiß Bayern München“, oder „Auswechselspieler! Ihr seid nur Auswechselspieler! Auswechselspieee-ler! Ihr seid nur Auswechselspieler!“ gesungen. Daneben auch „Yellow Submarine“ der Beatles mit den Texten „Ihr seid nur ein Karnevalsverein, Karnevalsverein, Karnevalsverein“.
netzathleten.de: Abschließend möchten wir von Ihnen wissen: Haben Sie einen persönlichen Lieblingssong aus der Reihe Fangesänge?
Prof. Dr. Georg Brunner: Ja, und zwar „Zieht den Bayern die Lederhosen aus“ auf die Melodie von „Yellow Submarine“ der Beatles. Das aber eher mit einem Augenzwinkern, da ich zwar aus Bayern stamme, nun aber in Freiburg wohne und jetzt SC-Freiburg Fan bin.
Zur Person:
Prof. Dr. Georg Brunner lehrt an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und ist Leiter des Instituts für Musik.
Prof. Dr. Georg Brunner: So was wie Fangesänge gibt es schon seit der Antike. Voraussetzung hierfür ist die Kombination von Sport, Musik und Menschen. Die Fußballgesänge im engeren Sinne dürften in den 1960er Jahren entstanden sein. Sie gehen zum einen auf die englische Tradition des Hymnen-Singens vor einem Cupfinal-Spiel zurück, zum anderen auf die Übernahme von Klatschrhythmen, die in südamerikanischen Stadien gepflegt werden.
netzathleten.de: Haben sich Fangesänge über die Jahre verändert?
Prof. Dr. Georg Brunner: Das ist schwer zu sagen. Interessant ist, dass sich seit der ersten großen Untersuchung zu Fangesängen in Deutschland Ende der 1990er Jahre bis heute tatsächlich kaum etwas verändert hat. Untersucht man die für Fangesänge verwendeten Melodien, stellt man einen großen Pluralismus fest, allerdings kaum mit Veränderungen. Die Vorlagen entstammen verschiedensten musikalischen Genres wie Martinszügen, Karneval, Schützenfesten, Kirchenmusik, Gospels und Spirituals, Tanzveranstaltungen, Advents- und Weihnachtsliedern, Opern, Schlagern, aber auch – allerdings eher selten – bekannten Hits.
netzathleten.de: Wie entstehen Fangesänge denn überhaupt?
Prof. Dr. Georg Brunner: Aus Interviews mit aktiven Fans zeichnet sich folgendes Bild ab: Es handelt sich bei der Schöpfung von Fangesängen um einen individuellen, nicht um einen kollektiven Prozess. Die einfachste Möglichkeit besteht darin, dass man den Gesang beziehungsweise die Melodie einfach von einem anderen Verein übernimmt. Daher rühren die häufigen Überschneidungen von Fangesängen bei den verschiedenen Vereinen; lediglich der Mannschaftsname wird ausgetauscht. Die andere Möglichkeit besteht darin, dass man sich neue Melodien sucht. Etwa bereits bei der Hinfahrt zu einem Spiel wird eine Melodie, die beispielsweise im Radio gehört wird, als passend für einen Fangesang erkannt und dann eventuell bereits mit Text unterlegt. Dies geschieht also rein zufällig. Dabei wird weniger neu erfunden als eine Melodie gefunden.
netzathleten.de: Und warum werden häufig Melodien bekannter Songs genutzt?
Prof. Dr. Georg Brunner: Will man, dass ein Song sich „durchsetzt“, muss man auf allgemein Bekanntes zurückgreifen. Die Musik kommt aus ganz unterschiedlichen, aber wohl doch alltäglichen Praxen der Fans. Man kann praktisch von einer musikalischen Volkskultur sprechen wie etwa auch beim Singen im Bierzelt. Auffallend dabei ist, dass nahezu keine aktuellen Titel der Popcharts Eingang finden. Allerdings gibt es oftmals Songs rund um den Fußball wie zum Beispiel von Herbert Grönemeyer, Xavier Naidoo oder Sportfreunde Stiller; überwiegend stammen die Melodien für Fangesänge aber von Schlagern oder Oldies der 60er oder 70er Jahre. Man beschränkt sich auf Altbewährtes, was möglichst viele kennen und mitsingen können.
netzathleten.de: Woher kommt nun trotz der überaus großen Vielfalt der Melodien die Einheit dieser Elemente untereinander?
Prof. Dr. Georg Brunner: Reinhard Kopiez und Guido Brink – zwei Pioniere der Fangesänge-Forschung – stellen im Zusammenhang mit diesem Thema die Frage nach der Ästhetik der Fangesänge. Da jeder Mensch eine private Ästhetik besitzt, die sich aus einer Vielzahl von verschiedenen musikalischen Genres bildet, gibt es offensichtlich eine relativ große Schnittmenge. Aus verschiedenen, offenbar nicht zusammenhängenden Dingen entsteht etwas Neues. Der Bielefelder Soziologe Dieter Baacke spricht hierbei von Bricolage oder Sampling. Die Menschen „basteln“ sich für die Bedürfnisse ihrer jeweiligen Kultur ihre Fangesänge zusammen und wählen aus der Überfülle des Angebots das aus, was ihnen im Moment gerade notwendig erscheint. Die Lieder werden nach dem Prinzip des Parodieverfahrens oder der Kontrafaktur umgetextet, ein Phänomen, das in der Musikgeschichte eine lange Tradition hat. Es erfolgt eine Art Materialrecycling.
netzathleten.de: Und wie werden Fangesänge weitergegeben, sodass viele sie kennen?
Prof. Dr. Georg Brunner: Im Stadion selbst stimmt ein Fan in der Fankurve diesen Gesang an. Heute sind es meist die Ultragruppen, die über entsprechende Beschallungsmöglichkeiten verfügen, und den Gesang im Stadion weitergeben. Ein Capo koordiniert als Vorsänger die Gesänge und wird von Trommlern unterstützt. Der harte Fankreis stimmt ein. Man probiert aus. Durch „Fortpflanzung“ etabliert sich der Gesang oder wird auch abgelehnt, kann sich also nicht durchsetzen.
netzathleten.de: Was macht einen „guten“ Fangesang aus?
Prof. Dr. Georg Brunner: Wie bereits schon gesagt, muss es sich um allgemein bekanntes Liedgut handeln. Weiterhin muss es eine Melodie sein, die leicht singbar und rhythmisch ist. Textlich kann man im Grunde zwei Richtungen unterscheiden: die eigene Mannschaft anspornende Gesänge und Antigesänge gegen die gegnerische Mannschaft. Wichtig ist zudem, dass man Fangsänge gezielt einsetzt, je nach Dramaturgie des Spiels. Lieder trifft man besonders vor und zu Spielbeginn, nach Torerfolgen oder kurz vor dem Ende, wenn die Partie bereits entschieden ist. Also in Situationen, in denen sich die Fans mehrheitlich in einer psychisch entspannten Verfassung befinden. Klatsch-Rhythmen, rhythmisiertes Rufen und Kurzgesänge setzen die Fans bei unentschiedenem Spielstand oder nur knappem Rückstand ihrer Mannschaft zur Anfeuerung ein.
netzathleten.de: Gibt es Melodien, die in Deutschland besonders bekannt sind? Falls ja, welche?
Prof. Dr. Georg Brunner: Ja, zum Beispiel „Guantanamera“. Darauf wird unter anderem „Scheiß Bayern München, wir singen Scheiß Bayern München, Scheiß Bayern München“, oder „Auswechselspieler! Ihr seid nur Auswechselspieler! Auswechselspieee-ler! Ihr seid nur Auswechselspieler!“ gesungen. Daneben auch „Yellow Submarine“ der Beatles mit den Texten „Ihr seid nur ein Karnevalsverein, Karnevalsverein, Karnevalsverein“.
netzathleten.de: Abschließend möchten wir von Ihnen wissen: Haben Sie einen persönlichen Lieblingssong aus der Reihe Fangesänge?
Prof. Dr. Georg Brunner: Ja, und zwar „Zieht den Bayern die Lederhosen aus“ auf die Melodie von „Yellow Submarine“ der Beatles. Das aber eher mit einem Augenzwinkern, da ich zwar aus Bayern stamme, nun aber in Freiburg wohne und jetzt SC-Freiburg Fan bin.
Zur Person:
Prof. Dr. Georg Brunner lehrt an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und ist Leiter des Instituts für Musik.