„Wir sind die Glückskinder“ MT Melsungen -- Ivonne Hildebrand
Ivonne Hildebrand, Nachwuchskoordinatorin bei der MT Melsungen, im Interview

„Wir sind die Glückskinder“

  • Frank Schneller
Vor nun fast genau einem Jahr – im April 2023 – startete die MT Melsungen als erster Bundesligist ihr Nachwuchsförderprogramm ‚Glückskinder‘ – ein Angebot an Kids und Jugendliche zwischen fünf und 16 Jahren mit Entwicklungsverzögerungen sowie körperlichen und geistigen Einschränkungen. Hierzulande eingeführt hatte das ursprünglich dänische Konzept die Spielgemeinschaft ‚Handball Bad Salzuflen‘. Das wiederum war auch für den TV Arnsberg, den Kooperationsverein der MT, beispielgebend – von dort brachte der heutige Vorstand für Strategie Nachwuchs und regionale Kooperationen, Axel Renner, die Idee nach Nordhessen. Mit Leben erfüllt hat das Projekt in der Folge dann Nachwuchskoordinatorin Ivonne Hildebrand. Wir baten sie für eine Zwischenbilanz zum Interview.
netzathleten: Frau Hildebrand, die ‚Glückskinder‘ aus Melsungen feiern dieser Tage ein kleines Jubiläum. Zeit für ein erstes Fazit: Hält die Kampagne, was sie verspricht – und was Sie sich davon versprochen haben?

Ivonne Hildebrand: Da kann ich aus voller Überzeugung sagen: Ja. Als wir letztes Jahr starteten, hatten wir mehr Übungsleiter als Kinder. Wir sind mit zwölf oder 13 Übungsleitern gestartet und hatten, wenn ich mich richtig erinnere, acht Kinder beim ersten Training. Das Verhältnis hat sich verändert – und das war ja auch der Sinn und Zweck: Inzwischen zählen wir mehr Kinder als Übungsleiter, obwohl auch diese Zahl auf 15 angewachsen ist, was die Arbeit in der Hinsicht erleichtert, dass natürlich nicht immer alle jeden Samstag in der Halle sein müssen. Die machen das ja alle ehrenamtlich, kommen zum Teil von weiter weg und nehmen sich einfach dafür die Zeit, weil ihnen das Projekt am Herzen liegt. Und da ist es dann schön, dass wir uns ein wenig abwechseln können.

Sie selbst bleiben aber so nah wie möglich dran?

So gut es geht. Als wir letztes Jahr starteten, war das als Projektleiterin schließlich auch Teil meines damaligen Job-Profils. Seit November letzten Jahres bin ich Nachwuchskoordinatorin und habe ein vielfältigeres, größeres Aufgabengebiet. Dies lässt leider gar nicht mehr zu, dass ich wirklich jeden Samstag mit dabei sein kann. Das ist einerseits sehr schade, weil diese Zeit einem persönlich unheimlich viel gibt. Ich empfinde sie nicht als Arbeit. Diese Kids gehen mit einem Strahlen nach Hause. Und das zeigt mir, zeigt uns allen, wie glücklich man sein kann, wenn man vielleicht selber zwei ganz gesunde Kinder hat. Andererseits vor allem aber eben auch, welche Lebensfreude diese Kinder versprühen. Glauben Sie mir: Das ist sehr inspirierend. Dieses Projekt ist ein absolutes Glück für uns alle, die wir daran teilhaben dürfen – da ist null Zwang, sondern nur eine hohe Motivation und so viel Herzblut bei jedem zu spüren und zu erkennen, der mitmacht. Darum sind wir auch sehr dankbar, dass es so gut angenommen wird.

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Wie viele Kinder sind inzwischen dabei?

Rund 24. Das variiert etwas, da ja auch nicht immer alle jedes Wochenende dabei sein können und uns auch fortlaufend neue Anfragen erreichen. Dafür sind wir auch stets offen – wir haben uns jetzt da erstmal auch keine Grenzen gesetzt, weil wir ja auch die Möglichkeit haben, mal mehr als fünf Trainerinnen und Trainer pro Einheit vor Ort zu haben. Fünf sind unser Minimum, um den bestmöglichen Ablauf garantieren zu können. Das ist unser Selbstanspruch.

Sie bieten das Training jeden Samstag in den Vormittagsstunden an?

Von den Ferien abgesehen: Ja. Immer eineinhalb Stunden.

Das ist das Maximum. Das merkt man an der Aufmerksamkeit. Für die Kinder ist das schon eine höhere Belastung als sie es sonst aus ihrem Alltag kennen. Man darf das nicht so ohne Weiteres mit einem normalen Jugendtraining vergleichen.

Welche Trainingsinhalte haben sich denn etabliert, wie sieht eine Einheit aus?

Anfangs verteilt sich das Trainerteam auf mehrere Stationen – wir haben dann immer Bewegungsparcours in einem Hallendrittel und in den anderen machen wir einen handballerischen Schwerpunkt, ein wenig nach Alter getrennt. Nach der Hälfte der Zeit wird gewechselt.

Spielt der Altersunterschied eine signifikante Rolle bei der Übungsausführung?

Durchaus. Mit den Älteren kann man natürlich schon ein bisschen mehr machen, bei den Kleinen ist es wirklich ganz viel spielerisch. Auf dem Bewegungsparcours sind alle immer mit sehr viel Freude dabei. Den variieren wir immer, also es ist nicht immer der gleiche. Es sind zwar wiederkehrende Elemente, aber wir versuchen das immer jede Woche ein bisschen neu aneinander zu reihen. Dort trauen sie sich manchmal Sachen, wo die Eltern dann auch manchmal sagen: Das hätte ich meinem Kind vorher gar nicht zugetraut, dass es das jetzt macht. Im Abschlussteil haben wir dann immer noch ein Spiel, entweder wirklich über das große normale Handballfeld, mit Unterstützung von uns Trainern – wenn wir wirklich ganz viele sind, spielen wir dagegen auch auf zwei Querfeldern, was es gerade den Jüngeren natürlich einfacher macht, von Tor zu Tor zu kommen. Wir entscheiden über die Spielform immer situativ – auch nach Teilnehmerzahl und Altersunterschieden.

Sie sagten, die Eltern sind mit dabei. Wie steht es um Geschwister, auch solche ohne Einschränkungen?

Es sind auch Geschwisterkinder mit dabei, klar. Die sind natürlich bei uns genauso willkommen, die müssen dann nicht mit den Eltern an der Seite warten, sondern dürfen natürlich mitmachen. Das sorgt dann sogar für einen inklusiven Charakter. Aber das Projekt richtet sich in erster Linie erstmal an Kinder mit Einschränkungen und da machen wir auch keinen Unterschied, was das jetzt für eine Einschränkung ist, ob geistig, ob körperlich. Wir haben auch Kinder, wo beides zutrifft, auch unterschiedliche Schweregrade.

Das erfordert aber gezieltes Know-How im Umgang. Und sicherlich auch Mut beim Start.

Stimmt. Wir sind auch vor unserem Auftakt letztes Jahr extra nach Arnsberg gefahren – acht Trainer –, sind über das hinaus, was wir schon wussten, auch noch mal mit den Verantwortlichen dort in den Austausch gegangen und haben das sozusagen als Schwung dann auch mit in unsere Auftaktveranstaltung genommen. Wir wussten ja auch nicht, wie sich das entwickelt, haben aber dann relativ schnell gemerkt: Unsere Zielgruppe ist so gut untereinander vernetzt, die betreffenden Familien leisten sich gegenseitig Hilfe – das spricht sich schnell herum. Dies wiederum ist dann auch eine Verpflichtung an das Trainerteam, beständig zu bleiben. Wir empfinden eine besondere Verantwortung.

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Bitte erklären Sie diese.

Den Kindern und Jugendlichen bietet unser Projekt einen geschützten Raum, in dem sie sich frei und ohne Leistungsdruck entfalten können. Oftmals können sie in normalen Sportgruppen nicht mitmachen, weil die Übungsleiter diese zusätzliche Betreuung nicht leisten können oder wollen oder weil die Kinder dort nicht immer so akzeptiert werden wie sie sind.

Wie sind die Rückmeldungen der Eltern?

Bis jetzt sehr positiv. Sie sind größtenteils wirklich auch während der ganzen Zeit dabei, sitzen dann mit am Rand, haben dann auch mal Zeit, sich untereinander auszutauschen, aber natürlich holen sie die Kinder auch mal ab in einzelne Übungen. Das finde ich auch sehr gut. Ihre Kinder kommen auch nicht nur sporadisch, sondern in der Regel jede Woche, wenn sie gesund sind. Wir erleben keine große Fluktuation.

Wie groß ist Ihr Einzugsgebiet?  

Wir machen das Training ja in Guxhagen. Das ist über die Autobahn A7 gut zu erreichen. Der Radius umfasst den Landkreis Kassel, Guxhagen über Melsungen Richtung Schwalm-Eder-Kreis. Einige haben rund eine Stunde Anfahrtszeit.

Gibt es Expansionsüberlegungen für dieses Projekt?

Wir haben es zeitlich jedenfalls nicht begrenzt und überlegen schon, dass eventuell mal Richtung Kassel selbst zu erweitern, wenn wir das personell und organisatorisch leisten können, damit auch dort Familien von diesem Angebot partizipieren können. Und wir haben auch noch eine Sonderschule, von der Kinder gerne teilnehmen würden. Oder wo die Lehrer uns auch sagen, das wäre genau was für sie, aber die Eltern noch nicht die Möglichkeit haben, die Kinder so zu unterstützen, weil sie vielleicht nicht mobil sind. Hier wäre dann ein Fahrdienst vorstellbar – aber das muss alles sehr gut vorbereitet sein, dafür müssen die Rahmenbedingungen erst einmal geschaffen und auch über Bordmittel diskutiert werden. Wir finanzieren das Projekt ja erst einmal selbst. Im Zuge dessen haben wir die Familien einfach so mit aufgenommen – als Teil der Melsunger Turngemeinde. Wir sehen sie als normale Vereinsmitglieder und möchten, dass sie ein fester Bestandteil der Handballabteilung sind, keine Sondergruppe.

Klappt das?

Durchaus. Wir haben im letzten Winter die Glückskinder beispielsweise gleich in unser traditionelles Weihnachtsspielfest integriert, gemeinsam mit unseren Jüngsten, den Superminis, Minis, der E-Jugend. Es bedarf schließlich auch der entsprechenden Nachhaltigkeit in der Praxis. Wir wollen das Projekt leben. Es ist kein Mittel zum Zweck, sondern eine Herzensangelegenheit. Wir bilden zum Anfang und am Ende jedes Trainings einen Kreis – das ist so ein Ritual geworden, bevor wir die Kids ins Wochenende und die neue Woche entlassen. Unser Spruch lautet dann: „Wir sind die Glückskinder.“ Wir! Das drückt es perfekt aus.

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