Experteninterview - Was macht autogenes Training aus?
- citysports.de
citysports.de: Wenn ich an Autogenes Training denke, habe ich immer das Bild vor Augen: Frauen liegen ausgestreckt auf der Matte und schlafen.
Dr. Claudia Zieroff: Der Liegekurs hat sich leider in einigen Entspannungs- kursen eingebürgert. Doch Autogenes Training ist eine Methode, die Menschen im Alltag, im Büro, in der U-Bahn anwenden sollen. Deswegen machen wir Übungen im Sitzen, so sind die Kursteilnehmenden flexibler in der alltäglichen Anwendung.
Wer ist eigentlich mehr in den Kursen zu finden, Frauen oder Männer?
Tendenziell sind mehr Frauen in Präventionsmaßnahmen. Männer kommen meistens erst dann, wenn es bereits „geknallt“ hat.
Wie kann Autogenes Training helfen, damit es nicht erst zum Burnout kommt?
Autogenes Training kann helfen, den Stresslevel zu reduzieren, bei körper- lichen Beschwerden, Gewohnheits- und Verhaltensmuster zu ändern, Wettkampfsportler mental auf die Wettkampfsituation vorzubereiten sowie bei Einschlafschwierigkeiten. Wer regelmäßig übt, wird insgesamt ruhiger, gelassener.
Wie oft und wie lange in der Woche sollte man sich Zeit für Autogenes Training nehmen?
Man bringt dem Körper bei, auf bestimmte Signale zu entspannen. Je besser man übt, diese Signale aus Formeln oder Bildern einzusetzen, desto schneller entspannt sich der Körper. Drei Minuten reichen, um dann einen positiven Effekt zu erzielen.
Ein Anfänger braucht sicherlich länger, oder?
Bis Autogenes Training zuverlässig eingesetzt werden kann, dauert es etwa ein halbes Jahr. Lehrbuchmäßig sollte man Autogenes Training drei Mal täglich anwenden. Aber ein Mal täglich ist auch effektiv. Wichtig ist, Autogenes Training kontinuierlich anzuwenden.
Ich vermute, wenn mir jemand sagt „dein rechter Arm wird schwer…“, dass es bei mir nicht wirkt.
Einige Menschen können sich leichter darauf einlassen – andere hingegen brauchen länger. Ich erkläre immer was im Körper passiert: Die Schwere der Arme kommt durch das Absinken des Muskeltonus zustande – das ist doch nichts Magisches. Durch die körperliche Entspannung wird der Blutfluss verstärkt, dann kribbelt der Arm und wird warm. Jeder kann ein Entspannungsverfahren für sich finden – für manche ist allerdings ein anderes Verfahren wie z.B. die Progressive Muskelentspannung oder Yoga eine bessere Entspannungsmethode.
Das Autogene Training und die Progressive Muskelrelaxation gehören zu den beliebtesten Entspannungsmethoden. Wann hilft welches der beiden Verfahren besser?
Beide Methoden erreichen den körperlich entspannten Zustand bei wachem Bewusstsein bzw. einem ähnlichen geistigen Zustand wie kurz vor dem Einschlafen. Der Zugang ist nur ein anderer. Die Progressive Muskel- entspannung kann jeder spüren, ist handfester. Das Autogene Training hat nur wenig mit Bewegung zu tun. Autogenes Training ist aber auch keine Tablette, die man einwirft und dann funktioniert es – es bedarf der regelmäßigen Übung.
Aber wie wirkt Autogenes Training, wo liegt der Kern?
Autogenes Training ist eine Methode, die auf der Kraft der Gedanken basiert. Ein Baustein zum Beispiel sind Formeln und Bilder. Mit Hilfe dieser Auto- suggestionen und visuellen Vorstellungen können wir unseren Körper – das vegetative Nervensystem – so beeinflussen, dass es auf Entspannung umschaltet.
Haben Sie ein praktisches Beispiel?
Jeder kennt Angst- oder Stress-Situationen. Da kann man sich sehr gut immer weiter reinsteigern, bis man anfängt zu zittern, zu schwitzen, bis das Herz rast usw. Beim Autogenen Training erhält der Teilnehmer eine Formel oder ein Bild, das er in solchen Situationen hervorrufen kann. Man bleibt ruhig. Schöne, individuelle Erinnerungen, beruhigende Landschaften oder sogar eine Phantasiereise ermöglichen den Ruhezustand. Das sind keine trockenen Formeln, sondern etwas, was mit allen Sinnen erlebt wird.
Mit schönen Bildern kann ich mir das gut vorstellen, aber was ist mit Formeln gemeint?
Die Formeln des Autogenen Trainings sind Autosuggestionen, die das Umschalten auf Entspannung unterstützen. Wir wenden auch im Alltag häufig unbewusst Autosuggestionen an – z.B. wenn wir uns selbst sagen „ich schaffe das nicht“. Im Autogenen Training können wir auch individuelle Formeln entwickeln oder solche, die sich auf Alltagsverhalten auswirken. Aus einem Buch zum Autogenen Training für Kinder (die Kapitän Nemo Geschichten von Ulrike Petermann) stammt die Formel: „Nur ruhig Blut, dann geht alles gut.“ Meine fünfjährige Tochter hat das bereits so verinnerlicht, dass sie mir das neulich sagte, als ich selbst vor einem Vortrag nervös war. Das hat geholfen.
Klingt so, als ob auch für Kinder Autogenes Training geeignet ist.
Natürlich. Auch für Kinder ist Autogenes Training geeignet. Es gibt ganz tolle Geschichten, wo Autogenes Training mit eingebaut ist. Zum Beispiel bei Kapitän Nemo, der immer genau das sagt „Nur ruhig Blut, dann wird alles gut“. Das kann beispielsweise auch bei Schulstress eine Hilfe sein.
Apropos gut, woran erkenne ich die Qualität eines Kurses?
Kurse, die von der Krankenkasse nach Paragraph 20 SGB unterstützt werden, sind qualitativ geprüft. Kursanbieter müssen eine psychologische, pädagogische oder medizinische Ausbildung sowie eine Kursleiter-Ausbildung vorlegen. Es gibt aber auch gute Entspannungspädagogen, die nicht auf der Liste der Krankenkasse stehen. Aber, welcher Kurs und Kursleiter zu einem passt, muss man letztendlich selber herausfinden.
Irgendwie habe ich das Gefühl, jeder sollte Autogenes Training erlernen und alle wären entspannter.
Autogenes Training wird nicht verhindern, dass man in Stresssituationen gerät. Autogenes Training ist aber immer ein gutes Hilfsmittel, um auf solche Situationen gelassener zu reagieren. Zudem nutzt man mit Autogenem Training die wenigen Pausen effektiv und tankt so neue Energie.
Vielen Dank für das Gespräch.
Interview: citysports.de, Anne Nyhuis