gettyimages.de -- Kai Wandschneider (Mitte) in seinem Element
„Wage es, eigenständig zu denken ...“
- Frank Schneller / Frank Heike
Über Kai Wandschneider (58) sagte der ehemalige Weltklasse-Spielmacher und vermeintliche Trainerschreck Ivano Balic nach seinem Gastspiel in Wetzlar, er habe „noch nie mit einem so schlauen Menschen zusammengearbeitet“. Der Coach der HSG Wetzlar zitiert Wissenschaftler, Forscher, Häuptlinge, Generäle, Basketball-Legenden, Literaten und Philosophen. Aber nicht, um zu kokettieren. „Ich beziehe mich auf historischen Persönlichkeiten, weil ich an vieles glaube und danach lebe, was sie gesagt haben, es aber nicht besser formulieren kann als sie“, erklärt er.
In der abgelaufenen Serie erreichte Wetzlar mit Wandschneider als klarer Außenseiter das Final Four in Hamburg – nur einer von vielen bemerkenswerten Erfolgen angesichts der immensen Fluktuation, die in der Bundesliga ihresgleichen sucht. In Zahlen: Die nächste Saison mit eingerechnet, wird der Diplom-Sportlehrer 56 Spieler in Wetzlar trainiert haben. In den vergangenen sechs Jahren hatten die Mittelhessen 42 (!) Abgänge – im Schnitt sieben pro Saison – zu kompensieren. Dennoch holte die HSG pro Saison im Schnitt 34,1 Punkte und belegte den 9. Platz. Gleichzeitig wurde das negative Eigenkapital dem Vernehmen nach zur Hälfte abgebaut. Eine derart effiziente Kosten-Nutzen-Bilanz ist nicht möglich ohne eine unerschütterliche Philosophie, jede Menge Gelassenheit – und den Mut zur Authentizität. Nachlesbar im Interview mit Frank Heike und Frank Schneller.
Sie sind in der Szene ein respektierter Außenseiter. Sehen Sie sich selbst auch so?
Ich habe mich zwischen Sicherheit und Freiheit immer für Freiheit entschieden. Das ist sicher nicht typisch deutsch. Man kann mich überzeugen, umstimmen, mit mir diskutieren. Aber ich setze klare Grenzen. Ich mache keinen anderen von mir abhängig durch Macht. Und ich begebe mich auch nicht in die Abhängigkeit von Netzwerken, man könnte auch sagen, Kartellen, wie es sie überall im Handball gibt, um eventuelle Vorteile in diesem System zu haben, oder um Karriere zu machen. Das interessiert mich nicht. Ich äußere mich öffentlich, wenn Dinge aus dem Ruder laufen, wie etwa bei der Überbelastung der Spieler oder den Terminkollisionen zwischen HBL und EHF.
Sie schaffen mit Wetzlar immer wieder überraschende Siege, in Kiel, gegen Flensburg. Letzte Saison erreichte die HSG das Final4 in Hamburg. Wie ordnen Sie solche Erfolge ein?
Ich bleibe glasklar, wenn wir in Kiel oder gegen Flensburg gewinnen. Wenn das passiert, denken die Kieler oder Flensburger, sie seien noch am Flughafen von Skopje, in dem Moment, wo sie bei uns spielen, und sie haben den Flughafen von Barcelona schon im Kopf, weil das drei Tage später kommt. Nebenbei müssen sie noch in Friesenheim oder bei uns in Wetzlar spielen. Wir haben diese Belastung nicht. Diese Überraschungen wird es meiner Meinung nach übrigens seltener geben, wenn die Bundesliga bald weniger europäische Startplätze erhält. Dann werden sich viele Klubs, die jetzt noch auf Rang 6 und den EHF-Cup schauen, ausschließlich auf die Bundesliga konzentrieren.
Wie schaffen Sie es, dass die Erwartungen in Wetzlar nicht überborden?
Das Publikum hat Erwartungen, das ist doch klar. Aber wir sind eigentlich ein Abstiegskandidat. Es wird jedoch permanent erwartet, dass wir über uns hinauswachsen. Wir müssen unser Team in Wetzlar immer wieder umbauen, Abgänge verkraften, neue Spieler weiterentwickeln und integrieren. Das ist uns nun viele Jahre fantastisch gelungen, weil wir auch immer charakterlich feine Jungs beisammen haben. Nur wird es leider zur Selbstverständlichkeit, dass das gelingt. Das ist es aber nicht.
Lässt sich das Limit also nicht unbegrenzt verschieben?
Nein. Die Realität wird irgendwann einmal wieder in Mittelhessen vorbeischauen. Aus meiner ersten Wetzlar-Saison 2012/13 ist kein Spieler mehr dabei, und von vor zwei Jahren auch fast keiner mehr. Mein Assistent Jasmin Camdzic und ich bauen jedes Jahr eine neue Mannschaft auf, der Kern der Europameister von 2016 samt Torwart Andreas Wolff kam aus Wetzlar. Immer wieder werden unsere Spieler Stammkräfte bei großen Klubs. Nun ging Jannik Kohlbacher nach Mannheim. Insofern sind wir angesichts der Transferüberschüsse die besten Zusatz-Sponsoren des Vereins.
Was sollte verhindern, dass sich ein Verein wie die HSG in seiner Nische zeitlos einrichtet?
Die Handballszene verändert sich rasant. Spieler, die früher nach Wetzlar, Minden oder Lemgo gegangen wären wie ein Lukas Nilsson oder Nikola Bilyk, gehen jetzt mit 18 Jahren direkt nach Kiel. Ein Filip Jicha ging von der Schweiz nach Lemgo zum THW, mit 25 Jahren. Kiel hat früher Weltklasse gekauft, jetzt müssen sie Weltklasse ausbilden. Solche Spieler bekommen wir nicht mehr. Viele Spieler wollen ja auch gar nicht mehr in die 1. Bundesliga, weil bekannt ist, dass dich die Bundesliga zermalmt. Sie ist eine Mühle.
Das müssen Sie erklären.
Die Spieler sagen mir: wir können viele Spiele absolvieren. Aber man hat uns die Pause genommen. Als ich 2001 mit Dormagen in der 1. Liga war, endete die Saison am 15. Mai und die nächste begann am 15. September. Wir hatten Pausen. Es konnte sich Kreativität entwickeln. Man sah andere Dinge und bekam Impulse. Jetzt ist die Sommerpause der Nationalspieler auf drei Wochen zusammengeschmolzen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass HBO die 11. Staffel von „The Walking Dead“ in der Bundesliga dreht. Meinen Eindruck bestätigen mit Trainer und Spieler. Wir brauchen eine starke Spielergewerkschaft. Ich empfehle meinen Spielern, dort reinzugehen und Einfluss zu nehmen; 70 Prozent der Profis müssten rein, damit sie etwas erreicht. Ich hoffe, das passiert bald. Wir haben eine Inflation von Großereignissen. Der worst case eines Spielers sind 80 Spiele im Jahr. Wir haben genauso erschöpfte, ausgebrannte Spieler wie im Fußball. Man muss nicht glauben, dass es im Handball nicht so ist, nur weil es bei uns noch keinen Per Mertesacker gegeben hat. Es ist doch längst so, dass das Geschäftsfeld im Handball das Spielfeld überlagert. Wäre es anders, hätte es die Terminkollisionen der Rhein-Neckar Löwen in der abgelaufenen Saison nicht gegeben.
Sie sind Querdenker, aber auch Teil der Szene. Wie geht das zusammen?
Ich habe im Leben viele Erfahrungen gesammelt und gelernt, dass es einen Riesenunterschied zwischen Erfüllung und Erfolg gibt. Die Menschen wissen das ganz genau. Wenn ein Kai Wandschneider von seinen Kollegen und Managern der Liga als einziger Deutscher zweimal zum besten Trainer der Liga gewählt wird, obwohl er weder Meister noch Pokalsieger geworden ist, ist das eine riesen Form der Auszeichnung und Anerkennung. Ich habe mich immer weiterentwickelt und werde damit nicht aufhören. Wenn das Spiel sprechen könnte würde es sagen: überwinde dich selbst.
Ärgert es Sie, einen Trainerposten bei der SG Flensburg oder der MT Melsungen nicht zu bekommen?
Gar nicht. Im Gegenteil. Ich bin total zufrieden mit meinem Weg, der auch durch Demut gekennzeichnet ist. Ich freue mich für Kollegen, wenn sie einen tollen Job kriegen. Es gibt aber keine Durchlässigkeit bei der Besetzung der Trainerposten im Handball. Das benenne ich. Nur weil ich gewisse Abläufe im Handball in der Sache kritisiere, hat das nichts mit den Menschen zu tun, die gerade einen Job bekommen. Wenn ein Maik Machulla Trainer bei einem der weltbesten Klubs in Flensburg wird, obwohl er kaum Erfahrungen als Cheftrainer hat, ist das gut so und ich würde es mir noch öfter wünschen. Ich sage nur, dass wir viele Chancen vergeben. Wir könnten viel mehr aus der Sportart herausholen. Es gibt bei uns ja gar kein Trainerscouting. Ich habe in der Verbandsliga angefangen – es gibt großartige Trainertalente in allen Klassen. Es gibt in der Oberliga großartige, kreative, innovative Trainer. Aber sie werden von den Bundesligaklubs übersehen. Es gibt nur zwei Trainer in der Bundesliga, die sich über Jahre durchgesetzt haben, ohne langjährige Bundesligaspieler oder Nationalspieler zu sein. Das sind Michael Biegler und ich.
Es ist also systemimmanent, dass Sie nie ein Spitzenteam trainieren werden?
Das hat sich hoffentlich in zehn Jahren geändert. Vielleicht bin ich ja der Vorreiter.
Wie war es, als Sie Bundesligatrainer wurden?
Ich wurde von den Kollegen mit Argusaugen beobachtet, weil ich ein abgeschlossenes Sportstudium hatte und mich für Führungsstile und Psychologie interessierte. Ich war keiner von ihnen, weil ich nicht 300 Bundesligaspiele hatte. Aber ich habe mich durchgesetzt und bin stolz darauf. Die Trainerplätze sind rar. Jeder Trainer auf der Welt wäre gern Trainer in dieser Liga. Allein dass ich einen dieser Plätze erlangt habe, sehe ich als Erfolg an.
Hätte Ihre Stimme mehr Gewicht als Trainer des THW?
Das glaube ich nicht. Die Leistung der Schwächeren ist nicht die schwächere Leistung. Die Tabelle gibt uns darauf keine Antwort. Die Berichterstattung auch nicht. Wenn man sich an der Oberfläche bewegt, bleibt nur die Erinnerung: Titel, Titel, Titel. Dabei sind einige Titel hohl. An die erinnert sich bald niemand mehr. Wir müssen mehr hinter die Dinge schauen. Den Unterschied, wie gut ein Trainer ist, erkennt man im Duell unter seinesgleichen. Im Champions-League-Finale. In der Bundesliga erkennst du das nicht. Die meisten dieser Spiele sind Selbstläufer. Die Trainer machen in Spielen mit Klassenunterschied selten den Unterschied. Das regeln die Spieler.
Was ist ihr Antrieb?
Der Handball ist ein Medium. Man sollte sich schon mal fragen, was mache ich hier auf diesem Planeten, womit beschäftige ich mich. Was gibt meinem Leben Sinn. Ich halte es für wichtig, etwas in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Ich gehe nicht komplett in dem auf, was ich mache. Ich versuche nicht Dinge, die ich selbst nicht gedacht habe, als meine auszugeben. Also sage ich: das ist Habermas. Das ist Kant. Der hat gesagt: Sapere aude – wage es, eigenständig zu denken. Aber: Wer von uns denkt eigenständig – und neu? Was mich stört ist, dass im System Handball – beim DHB und in der Liga – unmodern geführt wird. Hierarchische Führung von oben nach unten hat ausgedient. Wir haben im Handball aber an der Spitze hierarchische Führungen mit intransparenten Auswahlverfahren. Überall wird Politik gemacht, alles wird als Mittel zum Zweck benutzt. Wir haben keine Verbundenheit, sondern Verbindungen. Verbindungen sind aber viel schwächer als Verbundenheit.
Können Sie das im Kleinen in Wetzlar anders machen?
Natürlich. Im Bereich Führung steckt so viel Potential. Wir führen differenziert in Wetzlar, lassen viel die Spieler entscheiden. Ich führe viele Feedback-Gespräche. Kommunikation ist die kleinste Einheit funktionierender sozialer Systeme. In den Spielen entscheidet auch unser Spielmacher, was als nächstes gespielt wird. Hohe Selbstverantwortung ist gefragt und Selbstorganisation. Das Auszeiten-Coaching mit Tafel und Filzstift ist für mich Effekthascherei. Da reicht ein Code-Wort wie „Schnee“ oder „Jugo zwei“, und meine Mannschaft weiß, was sie spielen soll.
Wie bauen Sie denn Ihre Mannschaft immer wieder neu auf?
Ich versuche Geschichten zu erzählen. Damit die Spieler Bilder haben. Metaphern, Allegorien. Es gibt viele gute Leitsätze dazu. Einer ist: „Vision without action is only a dream. But action without vision is a nightmare.“ Bei uns in Wetzlar ist die riesige Fluktuation das Problem. Wenn ich ein Bild suche und sage: Männer, wisst ihr noch, wie wir das Ding damals gedreht haben? Dann gucken mich neun leere Gesichter an, denn die waren damals gar nicht dabei. Diese Geschichte, dass wir gemeinsam durch dick und dünn gegangen sind, die gibt es in Wetzlar so nicht.
Wie also lautet Ihre Gleichung?
Es geht uns immer um beste Leistung und sozialen Zusammenhalt in Kombination. Wenn beides optimal ausgeprägt ist, hat man höchste Leistung. Wenn du nur hohen sozialen Zusammenhalt hast, aber null Leistung, hast du Country-Club Atmosphäre. Wir grillen, wir trinken Bierchen: geringe Leistung. Kein sozialer Zusammenhalt und keine Leistung, okay, das ist klar. Oder du hast zu viel Leistung und keinen sozialen Zusammenhalt – das sind neurotische Teams voller Angst. Wir wollen in Wetzlar Höchstleistung. Wir wollen reflektiertes Handeln nach dem Muster: plan-do-check-act.
Reden wir über Führungsstile – über Ihren Führungsstil.
Ich bin schon oft im Leben mit dem Thema Führung konfrontiert worden. Als großer Bruder, bei der Bundeswehr, als Student der Psychologie. Das Thema begleitet mich das ganze Leben. Ich beschäftige mich fortlaufend damit. Wer über moderne Führung liest, versteht sofort, dass hierarchische Führung von oben nach unten ausgedient hat. Natürlich muss ich als Handballtrainer mal etwas schnell ansagen, was dann auch gemacht wird. Das ist klar, das erfordert das Spiel, gerade in hektischen Situationen. Aber grundsätzlich entwickelt sich alles in Richtung bottom-up-Führung, also von unten nach oben.
Und wie ist das in Wetzlar?
Ich versuche, moderne Führung umzusetzen in Wetzlar. Im Bereich Führung steckt Potential. Das machen wir gut, das schöpfen wir sicher besser aus als andere Vereine. Wie gehe ich mit den Spielern um? Wie ist die Kommunikation intern? Wir wollen hier differenziert führen, jeder Spieler arbeitet und tickt da anders. Wir geben ihnen größtmögliche Entscheidungsfreiheit. Aber die Spieler machen lassen, heißt nicht, dass hier jeder machen kann, was er will. Im Spiel kommt von mir viel Verstärkung: Daumen hoch! Gut gemacht! Wobei ich gerade schon wieder denke, ob das so sein muss – der Spieler soll eine Aktion nicht machen, um nachher zur Bank zu schauen, ob mein Daumen hochgeht.
Der große Zampano an der Seitenlinie sind Sie wahrlich nicht ...
Mir ist egal, wie andere das sehen oder beurteilen. Ich führe mit den Jahren immer ruhiger. Gerade beim Coaching im Spiel. Ich versuche, in ein Spiel einzutauchen, ohne zu ertrinken. Wenn du in den flow kommen willst, musst du im Moment sein. Ich versuche im Auge des Orkans zu sein. Zur Ruhe zu kommen, frei im Kopf zu sein. das ist nie abgeschlossen. Ich bin diesbezüglich Skandinavier, mir hat die Führung Bengt Johanssons immer sehr imponiert, der Anfang des Jahrtausends die großen Schweden trainiert hat. Der hat begonnen, Spieler wirklich mit einzubeziehen.
Kommunikation als Erfolgsfaktor ...
Kommunikation ist nach Niklas Luhmann die kleinste Einheit sozialer Systeme. Sie muss funktionieren, damit das System läuft.
Es geht immer darum, wie deine eigenen Handlungslogiken sind. Sie müssen stringent, logisch, nachvollziehbar sein, dann wird Führung einfach. Wenn du dich als Handballtrainer stetig weiterentwickelst, kannst du irgendwann ein sehr guter Handballtrainer sein – übrigens auch ohne 300 Bundesligaspiele zu haben.
Sie hatten auch das Glück, dass man Sie ab 2012 machen ließ. Ihnen vertraute.
Wir haben einfach die Chance genutzt. Wir haben eine Vereins- und Spielkultur, die wir über gute Führung, Transparenz und Kommunikation erreicht haben. Unser Etat ist nicht gestiegen die letzten Jahre. Trotzdem sind wir besser geworden oder gut geblieben. Dazu gibt es einen guten Satz: Culture eats strategy for breakfast. Wir leben eine Kultur in Wetzlar, die notwendige Veränderungen nicht von vornherein als Bedrohung ablehnt ...
... und Druck ableitet oder abfängt, bevor er zersetzende Kraft entwickelt?
Wir Trainer in der Bundesliga stehen alle unter Druck. Den darfst du eben nur nicht an die Spieler weitergeben.
Das kann auf Dauer aber verdammt ungesund sein.
Allerdings. Man sollte rechtzeitig in sich reinhören, bevor der Tinnitus das verhindert, denke ich – oder wie man es anders sagen könnte: sei fertig, bevor du fertiggemacht wirst. Ich bin ja in Hamburg geboren, ich darf sagen: Wir Trainer sind manchmal wie Klaus Störtebeker. Auch enthauptet würden wir noch an sieben Spielern vorbeigehen, damit sie weiterspielen können. Das ist ungesund und kopflos, aber eine aufrechte Haltung.
Sie sind in der Szene ein respektierter Außenseiter. Sehen Sie sich selbst auch so?
Ich habe mich zwischen Sicherheit und Freiheit immer für Freiheit entschieden. Das ist sicher nicht typisch deutsch. Man kann mich überzeugen, umstimmen, mit mir diskutieren. Aber ich setze klare Grenzen. Ich mache keinen anderen von mir abhängig durch Macht. Und ich begebe mich auch nicht in die Abhängigkeit von Netzwerken, man könnte auch sagen, Kartellen, wie es sie überall im Handball gibt, um eventuelle Vorteile in diesem System zu haben, oder um Karriere zu machen. Das interessiert mich nicht. Ich äußere mich öffentlich, wenn Dinge aus dem Ruder laufen, wie etwa bei der Überbelastung der Spieler oder den Terminkollisionen zwischen HBL und EHF.
Sie schaffen mit Wetzlar immer wieder überraschende Siege, in Kiel, gegen Flensburg. Letzte Saison erreichte die HSG das Final4 in Hamburg. Wie ordnen Sie solche Erfolge ein?
Ich bleibe glasklar, wenn wir in Kiel oder gegen Flensburg gewinnen. Wenn das passiert, denken die Kieler oder Flensburger, sie seien noch am Flughafen von Skopje, in dem Moment, wo sie bei uns spielen, und sie haben den Flughafen von Barcelona schon im Kopf, weil das drei Tage später kommt. Nebenbei müssen sie noch in Friesenheim oder bei uns in Wetzlar spielen. Wir haben diese Belastung nicht. Diese Überraschungen wird es meiner Meinung nach übrigens seltener geben, wenn die Bundesliga bald weniger europäische Startplätze erhält. Dann werden sich viele Klubs, die jetzt noch auf Rang 6 und den EHF-Cup schauen, ausschließlich auf die Bundesliga konzentrieren.
Wie schaffen Sie es, dass die Erwartungen in Wetzlar nicht überborden?
Das Publikum hat Erwartungen, das ist doch klar. Aber wir sind eigentlich ein Abstiegskandidat. Es wird jedoch permanent erwartet, dass wir über uns hinauswachsen. Wir müssen unser Team in Wetzlar immer wieder umbauen, Abgänge verkraften, neue Spieler weiterentwickeln und integrieren. Das ist uns nun viele Jahre fantastisch gelungen, weil wir auch immer charakterlich feine Jungs beisammen haben. Nur wird es leider zur Selbstverständlichkeit, dass das gelingt. Das ist es aber nicht.
Lässt sich das Limit also nicht unbegrenzt verschieben?
Nein. Die Realität wird irgendwann einmal wieder in Mittelhessen vorbeischauen. Aus meiner ersten Wetzlar-Saison 2012/13 ist kein Spieler mehr dabei, und von vor zwei Jahren auch fast keiner mehr. Mein Assistent Jasmin Camdzic und ich bauen jedes Jahr eine neue Mannschaft auf, der Kern der Europameister von 2016 samt Torwart Andreas Wolff kam aus Wetzlar. Immer wieder werden unsere Spieler Stammkräfte bei großen Klubs. Nun ging Jannik Kohlbacher nach Mannheim. Insofern sind wir angesichts der Transferüberschüsse die besten Zusatz-Sponsoren des Vereins.
Was sollte verhindern, dass sich ein Verein wie die HSG in seiner Nische zeitlos einrichtet?
Die Handballszene verändert sich rasant. Spieler, die früher nach Wetzlar, Minden oder Lemgo gegangen wären wie ein Lukas Nilsson oder Nikola Bilyk, gehen jetzt mit 18 Jahren direkt nach Kiel. Ein Filip Jicha ging von der Schweiz nach Lemgo zum THW, mit 25 Jahren. Kiel hat früher Weltklasse gekauft, jetzt müssen sie Weltklasse ausbilden. Solche Spieler bekommen wir nicht mehr. Viele Spieler wollen ja auch gar nicht mehr in die 1. Bundesliga, weil bekannt ist, dass dich die Bundesliga zermalmt. Sie ist eine Mühle.
Das müssen Sie erklären.
Die Spieler sagen mir: wir können viele Spiele absolvieren. Aber man hat uns die Pause genommen. Als ich 2001 mit Dormagen in der 1. Liga war, endete die Saison am 15. Mai und die nächste begann am 15. September. Wir hatten Pausen. Es konnte sich Kreativität entwickeln. Man sah andere Dinge und bekam Impulse. Jetzt ist die Sommerpause der Nationalspieler auf drei Wochen zusammengeschmolzen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass HBO die 11. Staffel von „The Walking Dead“ in der Bundesliga dreht. Meinen Eindruck bestätigen mit Trainer und Spieler. Wir brauchen eine starke Spielergewerkschaft. Ich empfehle meinen Spielern, dort reinzugehen und Einfluss zu nehmen; 70 Prozent der Profis müssten rein, damit sie etwas erreicht. Ich hoffe, das passiert bald. Wir haben eine Inflation von Großereignissen. Der worst case eines Spielers sind 80 Spiele im Jahr. Wir haben genauso erschöpfte, ausgebrannte Spieler wie im Fußball. Man muss nicht glauben, dass es im Handball nicht so ist, nur weil es bei uns noch keinen Per Mertesacker gegeben hat. Es ist doch längst so, dass das Geschäftsfeld im Handball das Spielfeld überlagert. Wäre es anders, hätte es die Terminkollisionen der Rhein-Neckar Löwen in der abgelaufenen Saison nicht gegeben.
Sie sind Querdenker, aber auch Teil der Szene. Wie geht das zusammen?
Ich habe im Leben viele Erfahrungen gesammelt und gelernt, dass es einen Riesenunterschied zwischen Erfüllung und Erfolg gibt. Die Menschen wissen das ganz genau. Wenn ein Kai Wandschneider von seinen Kollegen und Managern der Liga als einziger Deutscher zweimal zum besten Trainer der Liga gewählt wird, obwohl er weder Meister noch Pokalsieger geworden ist, ist das eine riesen Form der Auszeichnung und Anerkennung. Ich habe mich immer weiterentwickelt und werde damit nicht aufhören. Wenn das Spiel sprechen könnte würde es sagen: überwinde dich selbst.
Ärgert es Sie, einen Trainerposten bei der SG Flensburg oder der MT Melsungen nicht zu bekommen?
Gar nicht. Im Gegenteil. Ich bin total zufrieden mit meinem Weg, der auch durch Demut gekennzeichnet ist. Ich freue mich für Kollegen, wenn sie einen tollen Job kriegen. Es gibt aber keine Durchlässigkeit bei der Besetzung der Trainerposten im Handball. Das benenne ich. Nur weil ich gewisse Abläufe im Handball in der Sache kritisiere, hat das nichts mit den Menschen zu tun, die gerade einen Job bekommen. Wenn ein Maik Machulla Trainer bei einem der weltbesten Klubs in Flensburg wird, obwohl er kaum Erfahrungen als Cheftrainer hat, ist das gut so und ich würde es mir noch öfter wünschen. Ich sage nur, dass wir viele Chancen vergeben. Wir könnten viel mehr aus der Sportart herausholen. Es gibt bei uns ja gar kein Trainerscouting. Ich habe in der Verbandsliga angefangen – es gibt großartige Trainertalente in allen Klassen. Es gibt in der Oberliga großartige, kreative, innovative Trainer. Aber sie werden von den Bundesligaklubs übersehen. Es gibt nur zwei Trainer in der Bundesliga, die sich über Jahre durchgesetzt haben, ohne langjährige Bundesligaspieler oder Nationalspieler zu sein. Das sind Michael Biegler und ich.
Es ist also systemimmanent, dass Sie nie ein Spitzenteam trainieren werden?
Das hat sich hoffentlich in zehn Jahren geändert. Vielleicht bin ich ja der Vorreiter.
Wie war es, als Sie Bundesligatrainer wurden?
Ich wurde von den Kollegen mit Argusaugen beobachtet, weil ich ein abgeschlossenes Sportstudium hatte und mich für Führungsstile und Psychologie interessierte. Ich war keiner von ihnen, weil ich nicht 300 Bundesligaspiele hatte. Aber ich habe mich durchgesetzt und bin stolz darauf. Die Trainerplätze sind rar. Jeder Trainer auf der Welt wäre gern Trainer in dieser Liga. Allein dass ich einen dieser Plätze erlangt habe, sehe ich als Erfolg an.
Hätte Ihre Stimme mehr Gewicht als Trainer des THW?
Das glaube ich nicht. Die Leistung der Schwächeren ist nicht die schwächere Leistung. Die Tabelle gibt uns darauf keine Antwort. Die Berichterstattung auch nicht. Wenn man sich an der Oberfläche bewegt, bleibt nur die Erinnerung: Titel, Titel, Titel. Dabei sind einige Titel hohl. An die erinnert sich bald niemand mehr. Wir müssen mehr hinter die Dinge schauen. Den Unterschied, wie gut ein Trainer ist, erkennt man im Duell unter seinesgleichen. Im Champions-League-Finale. In der Bundesliga erkennst du das nicht. Die meisten dieser Spiele sind Selbstläufer. Die Trainer machen in Spielen mit Klassenunterschied selten den Unterschied. Das regeln die Spieler.
Was ist ihr Antrieb?
Der Handball ist ein Medium. Man sollte sich schon mal fragen, was mache ich hier auf diesem Planeten, womit beschäftige ich mich. Was gibt meinem Leben Sinn. Ich halte es für wichtig, etwas in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Ich gehe nicht komplett in dem auf, was ich mache. Ich versuche nicht Dinge, die ich selbst nicht gedacht habe, als meine auszugeben. Also sage ich: das ist Habermas. Das ist Kant. Der hat gesagt: Sapere aude – wage es, eigenständig zu denken. Aber: Wer von uns denkt eigenständig – und neu? Was mich stört ist, dass im System Handball – beim DHB und in der Liga – unmodern geführt wird. Hierarchische Führung von oben nach unten hat ausgedient. Wir haben im Handball aber an der Spitze hierarchische Führungen mit intransparenten Auswahlverfahren. Überall wird Politik gemacht, alles wird als Mittel zum Zweck benutzt. Wir haben keine Verbundenheit, sondern Verbindungen. Verbindungen sind aber viel schwächer als Verbundenheit.
Können Sie das im Kleinen in Wetzlar anders machen?
Natürlich. Im Bereich Führung steckt so viel Potential. Wir führen differenziert in Wetzlar, lassen viel die Spieler entscheiden. Ich führe viele Feedback-Gespräche. Kommunikation ist die kleinste Einheit funktionierender sozialer Systeme. In den Spielen entscheidet auch unser Spielmacher, was als nächstes gespielt wird. Hohe Selbstverantwortung ist gefragt und Selbstorganisation. Das Auszeiten-Coaching mit Tafel und Filzstift ist für mich Effekthascherei. Da reicht ein Code-Wort wie „Schnee“ oder „Jugo zwei“, und meine Mannschaft weiß, was sie spielen soll.
Wie bauen Sie denn Ihre Mannschaft immer wieder neu auf?
Ich versuche Geschichten zu erzählen. Damit die Spieler Bilder haben. Metaphern, Allegorien. Es gibt viele gute Leitsätze dazu. Einer ist: „Vision without action is only a dream. But action without vision is a nightmare.“ Bei uns in Wetzlar ist die riesige Fluktuation das Problem. Wenn ich ein Bild suche und sage: Männer, wisst ihr noch, wie wir das Ding damals gedreht haben? Dann gucken mich neun leere Gesichter an, denn die waren damals gar nicht dabei. Diese Geschichte, dass wir gemeinsam durch dick und dünn gegangen sind, die gibt es in Wetzlar so nicht.
Wie also lautet Ihre Gleichung?
Es geht uns immer um beste Leistung und sozialen Zusammenhalt in Kombination. Wenn beides optimal ausgeprägt ist, hat man höchste Leistung. Wenn du nur hohen sozialen Zusammenhalt hast, aber null Leistung, hast du Country-Club Atmosphäre. Wir grillen, wir trinken Bierchen: geringe Leistung. Kein sozialer Zusammenhalt und keine Leistung, okay, das ist klar. Oder du hast zu viel Leistung und keinen sozialen Zusammenhalt – das sind neurotische Teams voller Angst. Wir wollen in Wetzlar Höchstleistung. Wir wollen reflektiertes Handeln nach dem Muster: plan-do-check-act.
Reden wir über Führungsstile – über Ihren Führungsstil.
Ich bin schon oft im Leben mit dem Thema Führung konfrontiert worden. Als großer Bruder, bei der Bundeswehr, als Student der Psychologie. Das Thema begleitet mich das ganze Leben. Ich beschäftige mich fortlaufend damit. Wer über moderne Führung liest, versteht sofort, dass hierarchische Führung von oben nach unten ausgedient hat. Natürlich muss ich als Handballtrainer mal etwas schnell ansagen, was dann auch gemacht wird. Das ist klar, das erfordert das Spiel, gerade in hektischen Situationen. Aber grundsätzlich entwickelt sich alles in Richtung bottom-up-Führung, also von unten nach oben.
Und wie ist das in Wetzlar?
Ich versuche, moderne Führung umzusetzen in Wetzlar. Im Bereich Führung steckt Potential. Das machen wir gut, das schöpfen wir sicher besser aus als andere Vereine. Wie gehe ich mit den Spielern um? Wie ist die Kommunikation intern? Wir wollen hier differenziert führen, jeder Spieler arbeitet und tickt da anders. Wir geben ihnen größtmögliche Entscheidungsfreiheit. Aber die Spieler machen lassen, heißt nicht, dass hier jeder machen kann, was er will. Im Spiel kommt von mir viel Verstärkung: Daumen hoch! Gut gemacht! Wobei ich gerade schon wieder denke, ob das so sein muss – der Spieler soll eine Aktion nicht machen, um nachher zur Bank zu schauen, ob mein Daumen hochgeht.
Der große Zampano an der Seitenlinie sind Sie wahrlich nicht ...
Mir ist egal, wie andere das sehen oder beurteilen. Ich führe mit den Jahren immer ruhiger. Gerade beim Coaching im Spiel. Ich versuche, in ein Spiel einzutauchen, ohne zu ertrinken. Wenn du in den flow kommen willst, musst du im Moment sein. Ich versuche im Auge des Orkans zu sein. Zur Ruhe zu kommen, frei im Kopf zu sein. das ist nie abgeschlossen. Ich bin diesbezüglich Skandinavier, mir hat die Führung Bengt Johanssons immer sehr imponiert, der Anfang des Jahrtausends die großen Schweden trainiert hat. Der hat begonnen, Spieler wirklich mit einzubeziehen.
Kommunikation als Erfolgsfaktor ...
Kommunikation ist nach Niklas Luhmann die kleinste Einheit sozialer Systeme. Sie muss funktionieren, damit das System läuft.
Es geht immer darum, wie deine eigenen Handlungslogiken sind. Sie müssen stringent, logisch, nachvollziehbar sein, dann wird Führung einfach. Wenn du dich als Handballtrainer stetig weiterentwickelst, kannst du irgendwann ein sehr guter Handballtrainer sein – übrigens auch ohne 300 Bundesligaspiele zu haben.
Sie hatten auch das Glück, dass man Sie ab 2012 machen ließ. Ihnen vertraute.
Wir haben einfach die Chance genutzt. Wir haben eine Vereins- und Spielkultur, die wir über gute Führung, Transparenz und Kommunikation erreicht haben. Unser Etat ist nicht gestiegen die letzten Jahre. Trotzdem sind wir besser geworden oder gut geblieben. Dazu gibt es einen guten Satz: Culture eats strategy for breakfast. Wir leben eine Kultur in Wetzlar, die notwendige Veränderungen nicht von vornherein als Bedrohung ablehnt ...
... und Druck ableitet oder abfängt, bevor er zersetzende Kraft entwickelt?
Wir Trainer in der Bundesliga stehen alle unter Druck. Den darfst du eben nur nicht an die Spieler weitergeben.
Das kann auf Dauer aber verdammt ungesund sein.
Allerdings. Man sollte rechtzeitig in sich reinhören, bevor der Tinnitus das verhindert, denke ich – oder wie man es anders sagen könnte: sei fertig, bevor du fertiggemacht wirst. Ich bin ja in Hamburg geboren, ich darf sagen: Wir Trainer sind manchmal wie Klaus Störtebeker. Auch enthauptet würden wir noch an sieben Spielern vorbeigehen, damit sie weiterspielen können. Das ist ungesund und kopflos, aber eine aufrechte Haltung.